Das erste Kennenlernen eines neuen Musikstückes
Das erste Kennenlernen eines neuen Musikstückes ist meistens für unsere Schüler ein spannender Augenblick. Wie soll diese Musik denn klingen? Gibt es besondere technische Hürden zu bewältigen?
Dieser erste Einstieg kann sehr unterschiedlich verlaufen. Es gibt verschiedene Ansätze im Unterricht, die selbstverständlich alle ihre Berechtigung haben, solange sie gut durchdacht und bewusst für den jeweiligen Schüler und die jeweilige Unterrichtssituation ausgewählt werden. Das erste Kennenlernen eines neuen Musikstückes soll für den Schüler möglichst eine spannende, eine bis zu einem gewissen Grad herausfordernde und vor allem aber eine freudige Angelegenheit sein. Dieser erste Einstieg wird sich wahrscheinlich auch darauf auswirken, ob das neue Stück gerne geübt wird, oder ob sich das Üben eher wie eine Last anfühlt. Lassen Sie uns im Geiste einmal folgende zwei Szenarien aus einem fiktiven Anfängerunterricht durchgehen:
Das erste Kennenlernen eines neuen Musikstückes: Szenario 1
Der Lehrer legt die Noten des neuen Musikstückes aufs Notenpult. Eventuell spielt er dem Kind das Stück zuerst vor, sodass es einen ersten Eindruck bekommt. Dann beginnt das Kind zu spielen. Es versucht, die Noten im richtigen Rhythmus mit der richtigen Tonhöhe sowie mit den Strichen und Bindungen, die in den Noten eingezeichnet sind, zu spielen. Was geschieht? Meist kommt das Kind nicht über die ersten paar Takte hinaus. Von so viel neuer Information auf einmal ist das Kind erst einmal überfordert. Das Lesen der Noten und Umsetzen aufs Instrument funktioniert nicht wie gewünscht. Das Kind beginnt wieder von vorne. Es „strauchelt“ wieder … und fühlt sich schlecht, weil es nicht geschafft hat, das Stück so zu spielen, wie es da steht. Eine gewisse Entmutigung macht sich breit. Da hilft es auch nicht viel, dem Kind zu erklären, dass „noch kein Meister vom Himmel gefallen ist“.
Nun kommt der Input des Lehrers. Er packt sein ganzes übetechnisches Knowhow aus, um mit dem Kind gemeinsam eine Stelle nach der anderen durchzugehen und jeden „Fehler“ auszubessern. Für manche Stellen wird sogar eine Extra-Übung „erfunden“. Der Lehrer ist sehr engagiert und schreibt dem Kind genau auf, wie es all diese schwierigen Stellen zu Hause üben soll. Kommt Ihnen das bekannt vor? Finden Sie sich wieder? Ich glaube, das kennen wir alle. Wir bemühen uns ja wirklich sehr, um als Lehrer unser Bestes zu geben, um unseren Schülern unser Wissen und Können weiterzuvermitteln.
Anschließend geht das Kind nach Hause, wahrscheinlich mit dem Gefühl, einen riesigen Berg vor sich zu haben, den es zuerst überwinden muss, um das neue Musikstück spielen zu können.
Das erste Kennenlernen eines neuen Musikstückes: Szenario 2
Der Lehrer legt noch keine Noten aufs Notenpult. Er beginnt mit seinem Schüler, ganz einfache Rhythmen, die dem Kind schon bekannt sind, vor- und nachzuspielen. Erst hören, dann in die Rhythmussprache übersetzen, dann spielen. Nach und nach bindet der Lehrer die Rhythmus-Muster aus dem neuen Stück ein, das er für das Kind vorbereitet hat. Nach dem Spielen darf das Kind die Rhythmus-Muster auch aufschreiben. In einem nächsten Schritt wird vom Vor- und Nachspielen zu einem „Frage und Antwort“- Spiel gewechselt. Auch der Schüler darf sich „rhythmische“ Fragen ausdenken, auf die der Lehrer dann antwortet.
Im nächsten Schritt werden die neu erlernten Rhythmus-Muster auf gegriffenen Tönen gespielt, z. B. auf den Tönen der Tonleiter in der Tonart des neuen Musikstückes. Nun werden mit diesem Rhythmus- und Tonmaterial verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten ausprobiert: Wie klingt es, wenn man das ganz laut/leise spielt? Was muss man tun, dass es laut/leise klingt? Wie klingt es mit ganz kurzen, scharf akzentuierten Tönen? Oder wenn man legato spielt?
Auf diese Art und Weise nähert sich der Lehrer mit seinem Schüler spielerisch und improvisatorisch immer mehr dem Notentext des neuen Musikstückes an. Wenn schließlich die Noten auf das Notenpult kommen, kennt das Kind bereits alle „Herausforderungen“ des neuen Musikstückes und kann sie mühelos bewältigen. Dieses Kind wird zu Hause sicher mit Freude sein Instrument auspacken, um sich mit dem neuen Stück weiter zu beschäftigen.
In diesem zweiten Szenario hat der Lehrer seinen Schüler spielerisch von einem kleinen Erfolgserlebnis zum nächsten geführt. Der Schüler durfte dabei ganz entspannt die neuen Dinge ausprobieren. Das unangenehme Gefühl, etwas nicht zu können, kam beim Kind erst gar nicht auf. Dieser Einstieg war gänzlich von freudigem Entdeckergeist und Konzentration auf Musikalisches geprägt.
Fazit
Beide Szenarien führen über kurz oder lang zuverlässig zu einem Erfolgserlebnis, keine Frage. Ich möchte auch hier gar nicht werten.
Vielleicht sollten wir aber in unserer Arbeit mit den Kindern öfters einmal von unserer „erwachsenen Denkweise“ etwas Abstand nehmen und uns mehr in die Erlebniswelt unserer jungen Schüler hineinfühlen? Uns selbst und den Kindern wieder etwas mehr Entdeckergeist und Kreativität gönnen? Ich denke, das würde nicht nur unseren Schülern gut tun, sondern auch uns selber neue Energie und Freude am Unterrichten bringen! Was meinen Sie? Über einen Kommentar von Ihnen würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
PS: Sogar im Streicher-Ensemble lassen sich neue Stücke auf diese für die Kinder so spannende und kurzweilige Art erarbeiten! Besonders gut dafür eignen sich die Orchesterstücke der neuen „String-Orchestra-Series“! Sollten Sie bereits eines oder mehrere Stücke dieser Serie mit Ihrem Ensemble gespielt haben, würde ich mich über ein Feedback sehr freuen!
Aufgrund der besseren Lesbarkeit habe ich mich entschieden, meist nur die männliche Form für beide Geschlechter zu verwenden. Selbstverständlich sind mit „Lehrer“ sowohl Lehrer als auch Lehrerinnen, sowie mit „Schüler“ sowohl Schüler als auch Schülerinnen gemeint!
Danke für die neuen Anregungen! Herzliche Grüße, Irmgard Fliegner
Danke! Und liebe Grüße zurück,
Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea,
Dein Newsletter ist immer so wundervoll. Klar, anregend, freundlich. Ich danke Dir wiederholt für Deine Arbeit und freue mich schon auf weitere Infos.
Eine gute Woche,
Ulrike aus Freiburg
Vielen Dank, liebe Ulrike, das freut mich sehr!!!
Herzliche Grüße nach Freiburg,
Andrea
Vielen herzlichen Dank für die wöchentlichen Inputs! Ich freue mich jeden Sonntag über den Newsletter, der wirklich eine Bereicherung ist.
Das freut mich sehr! Danke für Ihr schönes Feedback!
Liebe Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg
Vielen Dank für Ihre Ideen! Im Ensembleunterricht nutze ich diese Möglichkeit sehr oft mit viel Erfolg, Entspannung und Gelächter beim Weitergeben von Rhythmen im Keis. Es nimmt tatsächlich den stress heraus.
Im Einzelunterricht bei älteren Schülern werde ich das nun auch versuchen – trotz des größeren Programms, das sie schon zu bewältigen haben.
Werde berichten…
LG
E. Röll
Das klingt gut! Ich freue mich schon, von Ihren Erfahrungen mit den Schülern im Einzelunterricht zu hören!
Liebe Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg