„Nebenwirkungen“ des Übens
Immer wieder spricht man von den sogenannten „Transfer-Effekten“ beim Erlernen eines Musikinstruments. Ja, das intensive Üben fördert zweifellos die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten, die uns in anderen Lebensbereichen auch nützlich sein können. Trotzdem sollte das Musizieren auch einen „Selbstzweck“ haben dürfen und nicht nur aufgrund seiner positiven „Nebenwirkungen“ ausgeübt werden. Ich denke, wir alle, die uns so intensiv mit unserem Instrument beschäftigt haben, taten dies aus Freude am Musizieren und nicht im Hinblick auf die „Nebenwirkungen“. Trotzdem dürfen wir uns auch einmal bewusst machen, wie uns diese intensive jahrelange Beschäftigung mit unserem Instrument geprägt hat und uns in vielen Bereichen des Lebens zugute kommt.
"Nebenwirkung" 1: Fokussiertes Arbeiten
Wo kann man besser lernen, fokussiert zu arbeiten, als beim Üben eines Musikinstruments? Eine herausfordernde Passage verlangt die volle Aufmerksamkeit beim Üben. Der Spieler muss sich auf seine Spielbewegungen, auf den Klang, auf die richtige Abfolge der Töne usw. konzentrieren. Effektives Üben verlangt hohe Konzentration und Ausdauer. Wir haben also gelernt, fokussiert zu arbeiten, was uns bei der Erledigung anderer Aufgaben in unserem Alltag auch sehr zugute kommt.
"Nebenwirkung" 2: Analytisches Denken
Funktioniert beim Üben etwas nicht so, wie wir gerne möchten, müssen wir herausfinden, woran das liegt. Ist es der Saitenwechsel? Der Lagenwechsel? Die Koordination? Eine ungünstige Kontaktstelle? Zu viel Druck des Daumens? Eine ungünstige Bogeneinteilung? …
Es geht darum, genau zu beobachten, wie wir die betreffende Passage ausführen und anschließend zu analysieren, was der Grund dafür ist, dass es „nicht rund“ läuft. Diese analytische Fähigkeit kommt uns vor allem beim Unterrichten sehr zugute. Auch bei unseren Schülern sollten wir schnell erkennen können, woran es liegt, wenn etwas nicht „funktioniert“.
"Nebenwirkung" 3: Kreativität
Haben wir einmal erkannt, worin das „Problem“ besteht, erfordert es nun Kreativität, eine Übung „erfinden“, die schnell und verlässlich die nötigen Fähigkeiten entwickelt, um die betreffende Herausforderung zu meistern. Dies setzt selbstverständlich auch das notwendige Wissen über die physikalischen Gegebenheiten beim Spiel unseres Instruments voraus. Wer gewohnt ist, für jedes „Problem“ kreativ nach einer Lösung zu suchen, tut sich auch bei Herausforderungen in anderen Lebensbereichen viel leichter!
Auf die Feinheiten kommt es an
Wer ein Streichinstrument spielt, bemerkt schnell, dass es hier viel Feingefühl braucht. Man muss die Finger sehr genau auf die richtige Stelle auf dem Griffbrett stellen, sonst klingt es „unsauber“. Ebenso kommt es bei der rhythmischen Ausführung eines Musikstückes auf Genauigkeit an. Die kleinen und feinen Bewegungen des Vibrato müssen wohltrainiert sein, die Dynamik innerhalb einer Phrase sollte sehr fein abgestimmt sein, um das auszudrücken, was der Komponist notiert hat. Je feiner die klanglichen Nuancen herausgearbeitet werden, desto „farbiger“ wird das Spiel. Wir haben im Laufe unseres Studiums gelernt, auf die Feinheiten zu achten, um unser Musizieren ausdrucksstark zu gestalten.
Auch im alltäglichen Leben, z. B. in der Kommunikation mit unseren Mitmenschen kommt es immer wieder auf die Feinheiten – den Tonfall, die sprachliche Formulierung, die Körpersprache usw. – an.
Fehler als "Wegweiser" ansehen
Beim Erlernen eines Instruments macht man meist nicht von Anfang an alles „richtig“. Zum Lernen gehören Fehler dazu. Jemand, der viele Jahre lang intensiv auf seinem Instrument geübt hat, der hat gelernt, „Fehler“ nicht als etwas Verdammenswürdiges anzusehen, sondern als eine Art „Wegweiser“. Ein „Fehler“ zeigt uns, wie etwas nicht funktioniert. Also müssen wir den Weg finden, wie es funktioniert. Das kann man entweder selbst durch Versuch und Irrtum, oder aber man hat jemanden, einen Lehrer oder einen Mentor, der es einem sagt bzw. zeigt.
Es ist – denke ich – im Leben wichtig, sowohl selber durch Versuch und Irrtum ständig dazu zu lernen, als auch von jemand anderem, jemand Erfahrenem, etwas annehmen zu können. Beide dieser Eigenschaften haben wir durch das Studium der Musik und das intensive Üben unseres Instruments jahrelang „trainiert“.
Dankbarkeit
Ich denke, wir dürfen zu Recht dankbar sein, dass wir über den Weg des Instrument-Lernens so „ganz nebenbei“ diese Fähigkeiten entwickeln durften. Ich wünsche es auch all meinen Schülern, dass sie diese Fähigkeiten entwickeln können, denn sie werden ihnen helfen, fokussiert an ihren Zielen zu arbeiten, auftretende Probleme zu analysieren, auf kreative Art und Weise zu lösen und durch ihre „Fehler“ zu lernen. Junge Menschen, die diese Fähigkeiten entwickelt haben, haben alle Voraussetzungen, ein selbstbestimmtes, zufriedenes Leben zu führen.
Selbstverständlich haben wir noch andere „nützliche“ Dinge gelernt, z. B. Teamgeist durch gemeinsames Musizieren und dergleichen. Dies wäre aber ein Thema für einen eigenen Beitrag.
Was haben Sie durch das jahrelange intensive Üben am Instrument noch für weitere besondere Fähigkeiten entwickelt, die Ihnen heute in Ihrem Leben sehr nützlich sind? Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Guten Tag Frau Holzer-Rhomberg
Ich bin keine Musikpädagogin, aber dennoch möchte ich meine Erfahrung kurz Ihnen mitteilen.
Unser Sohn begann mit 5 1/2 mit dem Geigenspiel. Es war sein grosser Wunsch. – Wir stürzten uns in dieses Projekt. Zu Beginn hätte ich dieses Projekt auch immer wieder gerne auf Eis gelegt. Zu diesem Zeitpunkt war seine Sprache undeutlich und fehlerhaft. Ich erhoffte mir insgeheim, dass durch das Geigenspiel seine Aussprache besser werden könnte.
Heute ist unsere Sohn bald 11. Er spielt immer noch leidenschaftlich gerne Geige. Seinen „imaginäreren“ Rucksack wurde in der Zwischenzeit gefüllt mit Wörtern ( Spracherwerbsstörung, Legasthenie, auditive Wahrnehmungsstörung, ADS). Nicht gerade die optimalsten Voraussetzungen um Geige zu lernen.
Heute bin ich stolz auf unseren Sohn, wie weit er es gebracht hat. Dank auch einem geduldigen, einfühlsamen Lehrer.
Das fast tägliche Üben zeigt ihm auf, dass man mit Fleiss und Ausdauer sehr weit kommen kann. Noch heute ist das Üben ein Mutter – Sohn Projekt. Notenlesen, Rhythmus ist für ihn zum Teil sehr schwierig. Ihm fällt es dann leichter, wenn ich ihn am Klavier begleite und er die Melodie und den Rhythmus so verinnerlichen kann.
Seine Fortschritte sind riesig und ganzheitlich. Steigerung der Konzentration, Selbstsicherheit, Ausdauer, geduldig zu sein, geniessen zu können, zu zuhören.
Früher waren Vortragsstücke von ca. 2 min. Länge schon eine grosse Herausforderung an seine Konzentration. Jetzt spielt er kleine Concertos von knappen 10min. Länge. Natürlich kämpft er immer wieder mit seinem Rucksack. Schwierig für ihn ist das Zusammenspiel in dem Ensemble, weil er seine eigene Geige manchmal nicht hört (ADS).
Zur Zeit spielt er im Fiedel Max 5 und ist am letzten Satz des Concerto in G-Dur von A. Vivaldi.
Mein Fazit: Auch wenn die Voraussetzungen nicht immer optimal zu sein scheinen, aber wenn man Ziele vor Augen hat, kann man Berge versetzen. Ich bin froh, dass ich nicht auf die vielen Stimmen gehört habe, die mir rieten mit dem Projekt aufzuhören. Ich bin der festen Überzeugen, dass seine schulischen Leistungen auch dank dem Geigenspiel sich von einer 3 auf eine 2 verbessert haben.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit
Monica H.
Liebe Frau Monica H.,
vielen Dank für Ihren so schönen Erfahrungsbericht! Ihre so wertvolle und ausdauernde Unterstützung ist das beste, was Sie Ihrem Sohn geben können, völlig unabhängig davon, ob er auf Legasthenie, ADS oder sonstiges diagnostiziert wurde oder nicht. Ich kann Sie nur bestärken in dem, was Sie für Ihr Kind und mit Ihrem Kind tun! Ja, man kann tatsächlich Berge versetzen! Es ist so schön, dass Ihr Sohn sich so gut entwickelt durch das Geigenspiel und vor allem durch Ihre Fürsorge und Ihre „Mitarbeit“ beim Üben zu Hause! Das ist so eine freudige Nachricht! Danke, dass Sie diese Erfahrung mit uns hier teilen!
Herzliche Grüße und weiterhin so schöne Fortschritte für Ihren Sohn,
Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Frau Holzer-Romberg,
vielen Dank für die Darstellung aller Nebenwirkungen. Dem kann ich nur voll zustimmen und es erinnert wieder einmal daran, welche Verantwortung ich als Lehrerin habe, damit ich auch bei meinen Schülerinnen und Schülern für diese Nebenwirkungen sorgen kann.
Herzliche Grüße
Irmgard Fliegner
Vielen Dank, Frau Fliegner!