Musik hören – Musik verstehen – Musik spielen
Kann man ein Streichinstrument spielen lernen, wenn man sich so gut wie keine Streichermusik anhört?
Diese Frage beschäftigt mich immer mehr angesichts der Tatsache, dass immer mehr Kinder den Streicher-Unterricht an der Musikschule besuchen, deren Eltern selber kein Instrument spielen, und die auch zu Hause keine Musik mit Streichinstrumenten hören.
Musik hören
Manche Kinder kommen aus Kulturkreisen, in denen andere Instrumente als unsere altbekannten Streichinstrumente gespielt werden. Andere wiederum kommen aus einem Elternhaus, in dem eher andere Musikrichtungen – mit wenig bis gar keinen Streichinstrumenten – gehört werden. Da stellt sich mir folgende Frage: Wie wichtig ist es, dass ein Schüler, der ein Streichinstrument lernt, sich auch Musik mit Streichinstrumenten anhört?
Kann man denn eine Sprache lernen, ohne dass man jemanden diese Sprache sprechen hört? Nun: Auch gehörlose Menschen können sprechen lernen, aber es ist wahrscheinlich für sie ungleich schwieriger als für Menschen, die die Sprache tagtäglich hören.
Das Hören von Streichermusik erleichtert also sicher das Erlernen des Instruments. Was aber hören wir, wenn wir hören? Was genau hört das Kind, wenn es sich ein Musikstück anhört? Genügt das Anhören von Musik schon, um sie zu verstehen?
Musik verstehen
Etwas, das man nicht versteht, wirkt entweder überfordernd oder langweilig. Wenn mir jemand einen Text in einer Sprache vorliest, die ich nicht verstehe, bin ich entweder frustriert, weil ich nichts verstehe, oder ich „schalte ab“. Auch wenn ich diesen Text 10 x vorgelesen bekomme, werde ich ihn wahrscheinlich nicht verstehen. Hören auf Laute allein bringt mich also nicht wirklich weiter. Ich muss erst hören lernen, um zum Verstehen zu gelangen. Worauf soll denn ein Kind hören, wenn es ein Musikstück hört?
- Welchen Rhythmus spielt hier die Geige?
- Welches Instrument spielt das Hauptmotiv (die Hauptmelodie – um bei einer für Kinder verständlichen Sprache zu bleiben) von Takt 25 bis 32?
- Von welchem Instrument wird diese Melodie dann wiederholt?
- Was ändert sich in der Melodie ab Takt 40?
- Was für eine Stimmung entsteht dadurch?
- …
Höraufgaben dieser Art regen zu sehr genauem Zuhören an und können dem Schüler rhythmische Strukturen, den formalen Aufbau eines Musikstückes, die Spannungsbögen und nicht zuletzt die emotionale Wirkung erschließen.
Musik spielen
Ein Kind, das auf obige Art und Weise Musik hören lernt, beginnt, die Musik und ihre Aussagekraft immer mehr zu verstehen. Ein neues Musikstück auf dem Instrument zu lernen ist dann nicht mehr wie „Töne aneinander reihen“, sondern man erkennt Strukturen, das Gespielte ergibt plötzlich einen Sinn.
Fazit
Ich denke, wenn man ein Streichinstrument lernt, sollte man auch regelmäßig Streichermusik hören. Nur so kann man in die Ausdrucksmöglichkeiten eines Streichinstruments „hineinwachsen“ und es lieben lernen. Es wird also immer mehr auch zu unserer Aufgabe, unsere Schüler – besonders jene aus einer nicht „streicheraffinen“ Umgebung – mit Musik zum Anhören zu versorgen. Gezielte Höraufgaben machen das Zuhören interessanter und vermitteln auf höchst anregende Weise ein fundiertes musikalisches Wissen, das wiederum die Basis für eine Interpretation eines Musikstückes darstellt.
In unserer Arbeit als Instrumentallehrer vergessen wir auch manchmal, dass wir nicht nur Instrumentalisten ausbilden, sondern auch das Konzertpublikum von morgen. Jemand, der mit spannenden Höraufgaben ein breites Spektrum an Musik kennengelernt hat, jemand der hören gelernt hat, wird die Musik lieben und ein begeisterter Spieler sowie auch ein begeisterter Konzertbesucher sein!
Wie wäre es also, wenn wir uns Playlisten für unsere Schüler anlegten und sie regelmäßig mit kleinen Höraufgaben versorgten? Heute – im Zeitalter von YouTube und anderen Streaming-Diensten ist das ganz einfach möglich! Ja, ich weiß, das ist schon ein ganzes Stück Mehrarbeit zum Unterricht! Aber ist es nicht auch für uns Lehrer interessant und lohnenswert, uns mit unseren Schülern über die gehörten Musikstücke auszutauschen und deren Meinung zu hören? Welche Interpretation des Violinkonzertes XY gefällt dem Schüler am besten? Und warum? Bringt das nicht auch frischen Wind in unser Unterrichtszimmer? Was meinen Sie dazu?
Über einen Austausch zu diesem Thema hier in den Kommentaren würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Frau Holzer-Rhomberg!
Ich freue mich, daß ich Ihren Newsletter abonniert habe, auch wenn ich Kontrabassist bin – ich profitiere immer.
Die kleinen Spiele zur Flexibilisierung der Bogenhand vom letzten Mal sind schon ausprobiert und werden heute noch eingesetzt!
Grüße von der Bassgeige aus – Ihr Michael Pöhlmann
Liebe Frau Holzer-Rhomberg,
dieses Thema liegt mir auch schon lange am Herzen. Ich unterrichte seit vielen Jahren Vorschulkinder in einem extra für diese Altersgruppe entwickelten Kurs im Gruppenunterricht. Vor einigen Jahren entschied ich, dass ein Bestandteil dieses Kurses das gemeinsame Musikhören sein soll. Seitdem bringe ich in regelmäßigen Abständen Musik mit. Für das Hören von Musik sitzen die Kinder auf Matten und eine „Regel“ besagt, dass in dieser Zeit außer der Musik Stille sein soll. Die Kinder müssen die Musik nicht mögen, aber ich möchte, dass sie lernen, dass man trotzdem still zuhören kann, auch wenn es nicht immer gefällt.
Anschließend sprechen wir darüber und tauschen uns aus. Danach hören wir das Stück noch einmal und jedes Kind darf selbst entscheiden, ob es dazu etwas malen möchte oder noch einmal still lauschen.
Die Kinder besitzen außerdem ein Musiktagebuch, in das wir zu jedem Werk einen kleinen Zettel einkleben mit einem Bild des Komponisten, den Lebensdaten, Werkbezeichnung und eventuell einer kleinen Zusatzinformation (z.B. Was eine Serenade ist oder was Largo bedeutet). Mit Hilfe dieser Informationen bitte ich die Eltern sich das Stück zu Hause noch einmal mit dem Kind anzuhören.
Meine Erfahrung ist eine große Dankbarkeit der Eltern für diese kleinen Inspirationen und viel Begeisterung der Kinder wenn sie sehen, dass der CD-Spieler in der Stunde an die Reihe kommen wird.
Hier noch ein kleiner Einblick in die weiteren Vorteile:
Wenn ich nach Ansicht der Kinder zu lange zupfen lasse, anstatt mit dem Bogen zu kratzen, bringe ich gerne das Playful Pizzicato aus der Simple Symphonie von Britten und schon haben wir ein Argument besonders schön zu zupfen 😉
Damit viele Grüße und viel Freude beim Musikhören
Sandra Gamberger
Liebe Frau Gamberger,
vielen Dank für Ihre so interessanten Ausführungen! Sie beschreiben genau das, was ich meine! Auch zuhören kann man lernen! Vieles, das einem beim ersten Hören vielleicht nicht unbedingt zusagt, erweist sich dann bei mehrmaligem Hören als große Bereicherung! Wenn man erst einmal „eingetaucht“ ist in diese Welt …
Herzliche Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea,
Du schreibst mir aus der Seele. Ich werde meine Schüler aufgrund Deines letzten Newsletters wieder einmal dazu auffordern, mehr GEIGENmusik zu hören. Ich bin ganz Deiner Meinung- nur eine Sprache, die man versteht, kann man auch gut sprechen bzw. spielen. Danke immer wieder für Deine Anregungen!!!
Ganz liebe Grüße, Ulrike Winkler
Vielen Dank, liebe Ulrike!
Ich selbst höre nach wie vor gerne Radio (ja, auch in Zeiten, wo man fast nur noch bewegte Bilder anschaut!) und stoße dabei immer wieder auf musikalische „Schätze“! Ich finde das ungemein inspirierend!
Liebe Grüße,
Andrea
Liebe Frau Holzer-Romberg,
das ist eine wunderbare Idee von Ihnen. Meine Schüler beauftrage ich oft damit, sich klassische Literatur auch anzuhören, gebe CDs raus und schicke einen YouTube Link. Haben sie sich eine Playliste zusammengestellt? Wenn ja, haben sie Höraufgaben für verschiedene Altersgruppen konzipiert? Wie komplex waren die Aufnahmen – eine große Symphonie ist für viele vielleicht zu anspruchsvoll. Wie ist da ihre Erfahrung?
Herzliche Grüße
Wiebke Buschart
Liebe Frau Buschart,
vielen Dank für Ihren Beitrag! Nein, ich habe nicht direkt Playlisten für Schüler der verschiedenen Altersstufen, ich suche meistens etwas aus, was gerade zur Lernaufgabe des jeweiligen Schülers passt. Wenn jemand z.B. eine Air Varié von Dancla spielt, suche ich für ihn ein Video oder Hörbeispiel mit dem Thema, das Dancla seiner Komposition zugrunde gelegt hat. Das sind oft Arien aus einer Oper. Es ist für die Schüler höchst interessant zu hören, woher dieses Thema stammt und wie es im Original klingt. Man kann bei so einem „Vergleich“ von Stimme und Streichinstrument z. B. sehr gut an der Phrasierung arbeiten oder über verschiedene Arten des Vibrato diskutieren usw.
Und – Sie haben völlig recht – ganze Symphonien wären in diesem Fall nicht nur zu anspruchsvoll, sondern auch viel zu umfangreich. Auch das Hören muss man langsam „aufbauen“. Auch da muss man „hineinwachsen“. Ganze Playlisten mit Höraufgaben für verschiedene Altersgruppen zu erstellen – also ein umfassendes Konzept – wäre eine absolut lohnende Aufgabe, braucht allerdings viel Zeit – sehr viel Zeit! Da mir in erster Linie der Zusammenhang zum momentanen Lerninhalt des jeweiligen Schülers wichtig ist, gestalte ich das mit den Hörbeispielen und Höraufgaben für die Schüler wirklich ganz individuell.
Liebe Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg