Die Macht der Vorstellung
Als ich im Studium war, hatte ich oft bei verschiedenen Professoren hospitiert. Ich wollte einfach verschiedene Arten von Unterricht kennen lernen. An eine Unterrichtsstunde habe ich mich kürzlich wieder erinnert. Der Student spielte den 1. Satz der Arpeggione-Sonate. Der Professor unterbrach immer wieder das Spiel des Studenten, um verschiedene Anweisungen zu geben: Geh hier näher zum Steg; nimm dort etwas mehr Bogen; spiel an dieser Stelle mit mehr Bogengewicht usw. Das Spiel des Studenten war sehr auf die Spieltechnik ausgerichtet und klang wenig ausdrucksvoll, und das änderte sich auch nicht bis zum Ende der Unterrichtsstunde. Es fehlte einfach so etwas wie eine inspirierende musikalische Vorstellung.
... wie ein Sonnenaufgang ...
Bei einem anderen Professor spielte sich der Unterricht so ab: Der Student spielte eine Brahms-Sonate. „An dieser Stelle muss es klingen wie ein Sonnenaufgang …“ sagte der Professor und spielte vor, wie er sich einen „Sonnenaufgang“ vorstellte. Immer wieder sprach er in „Bildern“, um die Imagination des Studenten anzuregen. Manchmal spielte er auf seinem Instrument eine Phrase vor, manchmal ließ er den Studenten aber auch gleich selber einen persönlichen Ausdruck suchen bzw. finden. Durch seine anregenden Fragen „stimulierte“ er die Vorstellungskraft des Studenten.
Musikalische Vorstellungskraft schulen
Technische Spielanweisungen sind selbstverständlich wichtig und wertvoll, das möchte ich hier keineswegs in Frage stellen. Geht es allerdings um die Ausdruckskraft, kommt man oft mit „Bildern“ eher ans Ziel. Ein „Bild“ stellt sofort einen emotionalen Bezug her, während eine spieltechnische Anweisung meist auf rein rationaler Ebene aufgenommen und umgesetzt wird.
Wie können wir unsere Schüler anregen, in eine bessere musikalische Ausdruckskraft zu kommen? Eine große Rolle spielt hier unsere Sprache und die „Bilder“, die mit den ausgewählten Worten verbunden sind. Wir könnten z. B. gemeinsam mit den Kindern Wörter finden, die eine Melodielinie beschreiben. Wir könnten auch gemeinsam nach einem passenden „Bild“ suchen, oder nach einer passenden „Geschichte“, die eine Phrase oder ein Musikstück charakterisiert. Dies alles regt die Phantasie unglaublich an und kann das Spiel eines Musikstückes auf ein ganz neues Level heben.
Eine Vorstellung leitet das Handeln an
Durch eine klare Vision vor dem inneren Auge und Ohr werden unsere Spielbewegungen oft „wie von Zauberhand“ geführt, um den entsprechenden Ausdruck zu finden. Dies setzt natürlich bereits ein gewisses Maß an beherrschter Spieltechnik voraus. Es funktioniert sehr gut bei Schülern, die bereits die Anfangsphase hinter sich haben, und sich an neue musikalische Herausforderungen herantasten möchten. Dann ist ein „Bild“, eine „Vision“ oft das, was sie am meisten brauchen, um in die Ausdruckskraft zu kommen. Regen Sie die Vorstellungskraft Ihrer Schüler an, und Sie regen ihre Musikalität an!
Was für eine Macht eine innere Vorstellung, eine Vision, hat, können wir ja selber jeden Tag erfahren. Ein Beispiel: Was ist das Schönste und Kraftvollste, das Sie sich vorstellen können? Gehen Sie nun mit dieser Vorstellung im Kopf Ihre täglichen Aufgaben an und sehen Sie, was passiert! Holen Sie sich den ganzen Tag über immer wieder dieses Bild des Schönen und Kraftvollen vor Ihr inneres Auge. Fühlen Sie es, lassen Sie dieses intensive Gefühl immer wieder ganz bewusst durch Ihren Körper fließen. Wie geht es Ihnen an so einem Tag? Wie gehen Ihnen die Aufgaben von der Hand? Hat dieses kraftvolle Bild einen Einfluss darauf?
Wie arbeiten Sie im Unterricht mit Ihren Schülern an der musikalischen Ausdruckskraft? Wie regen Sie ihre musikalische Phantasie und Gestaltungskraft an? Auf Ihre Gedanken zu diesem Thema und Ihre Erfahrungsberichte freue ich mich – wie immer – sehr!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea,
wieder einmal vielen Dank für Deine Anregungen. Ja, die Kraft der Gedanken, der Vorstellung…das haben wir ja auch mit CQM. Ich bin so froh, dass ich beides im Unterricht kombinieren kann, um das Authentische des Schülers hervorzulocken. Es ist immer eine Herausforderung für uns Lehrkräfte- aber es lohnt sich.
Ganz liebe Grüße, und ich freue mich auf Deinen nächsten Bericht.
Ulrike Winkler, Freiburg
Vielen Dank, liebe Ulrike! Ja es ist immer wieder eine Herausforderung, aber wenn man dann ein Ergebnis sieht, freut es umso mehr!
Herzliche Grüße,
Andrea
Liebe Andrea,
erst einmal vielen Dank für die vielen praktischen Themen, da ist immer wieder etwas für meinen Unterricht dabei, sowohl neue als auch in Erinnerung gebrachte Anregungen. Das schätze ich sehr!
Nun zum Thema: Ich verwende gerne Eigenschaften, im Geschichten erzählen bin ich nicht sonderlich gut, da haben die Kinder mitunter mehr Ideen. Diese greife ich aber dann gerne auf und versuche sie zu modellieren und zu erweitern, oder auch zu kürzen.
Als Beispiel mag der Mückentanz dienen: Hier verwende ich verschiedene Eigenschaften der Mücken, die die Kinder oftmals selbst finden sollten: Chillende Mücke, tanzende Mücke, Stechmücke, traurige Mücke, vollgefressene Mücke, Opamücke, depressive Mücke, verrückte Mücke …..
Bei größeren Schüler lasse ich schnelle Stücke wie ein gesungenes-getragenes Stück spielen, und umgekehrt, ein langsames Stück als tänzerisches und luftiges Stück. Auch die Eigenschaften männlich und weiblich, mit laut (voller Klang) und leise (zurückhaltend, Klang aus der Ferne) in Kombination, lassen sich bei größeren Schülern gut umsetzen.
Auch ein Spiel in Farben ist durchaus wirksam. Das funktioniert zwar nicht bei allen Schülern, ist aber bei Klein und Groß gut machbar. Man erpart sich oftmals die Ansagen „in Stegnähe streiche“ oder “ den Bogen etwas lockerer ziehen“……
Nach dem Spielen frage ich gerne, was sie gerade anders gemacht haben damit es so klingt. Es ist immer wieder interessant was da so kommt. Die Kinder wissen da eigentlich sehr viel, oftmals mangelt es an der Motivation der Umsetzung weil das „sich selbst zuhören“ und das schwierigeste überhaupt „sich selbst reflektieren“ noch nicht gut entwickelt ist.
Liebe Grüße
Ursula
Liebe Ursula,
ganz herzlichen Dank für deine vielen schönen Ideen und Gedanken zu diesem Thema! Ich selber bin auch nicht wirklich gut im Geschichten erzählen. Ich suche oft mit den Kindern gemeinsam nach Eigenschaftswörtern, die eine bestimmte Passage beschreiben könnten. Daraus entstehen dann sogar manchmal durch weitere Assoziationen kleine Geschichten. Die Kinder haben ja eine rege Fantasie, das ist wunderbar!
Liebe Grüße,
Andrea
Liebe Andrea
Vielen Dank für Deine Anregungen, die ich immer sehr gerne lese!
Und liebe Ursula, vielen Dank auch für Deine Ideen. Ich bin auch nicht so ein guter Geschichtenerfinder….
Zum Geschichten „erfinden“ zu einem Stück hatte ich eben eine schöne Stunde mit meinem Sohn Antoine (7).
Er ist am auswendig lernen eines Bréval Cello Konzertes.
Auf dem Tisch hatte ich ganz viele Kleber: Piraten, Schiffe, Flugzeuge, Tiere, Herzen, Kleeblätter etc.
Wir haben Teil für Teil gesungen, dabei entdeckt, dass immer vier Takte zusammengehören. So hat er formal nebenbei schon etwas
wichtiges gelernt. Dann ging es an das Sticker suchen für die jeweiligen Teile. Es entstand eine ziemlich wilde Geschichte
mit vielen Assoziationen, die von Antoine direkt kamen. Und jeder Teil bekam so eine Aussage und klingt nun auch ganz anders:-)
Noch ein Erlebnis zu Deinem Kurs in Bern: Du hast so fantastisch und inspirierend referiert! Danke! Und auch über „Fehler sind Freunde“ hast Du gesprochen.
Bei einem meiner erwachsenen Schülern ist dann die logische Weiterentwicklung des Gedankens gekommen: „Freundschaften muss man pflegen!“:-)
Herzliche Grüsse aus Basel
Vincent
Lieber Vincent,
wie schön Du diesen Prozess des Geschichte-Erfindens mit Deinem Sohn beschrieben hast! Das zaubert mir gerade ein Lächeln ins Gesicht! Danke!
Ganz liebe Grüße nach Basel,
Andrea
Alle Beiträge sind so inspirierend, dass ich das Gefühl habe, wieder einen Sack voller Geschenke erhalten zu haben.
Vielen Dank an alle!