Zuhause konnte ich es noch …
Laura spielt ihrem Lehrer eine Etüde vor. Sie „kämpft“ sich von Zeile zu Zeile, „verspielt“ sich da und dort, bessert aus, spielt weiter, bessert wieder aus, spielt weiter, bis sie schließlich am Ende der Etüde ankommt und frustriert sagt: „Zuhause konnte ich es noch.“ Kennen Sie diesen Spruch auch?
Was ist da passiert? Und vor allem – wie können wir unseren Schülern helfen, dass das nicht wieder passiert?
Wahrnehmung
Oft nehmen Kinder beim Spielen Ihre „Problemstellen“ gar nicht bewusst wahr. Sie „wursteln“ sich irgendwie drüber, und haben dann das Gefühl, sie hätten die Stelle bewältigt. Praktizieren sie das mehrmals so, haben sie dann das Gefühl, „zuhause“ hätten sie das Stück doch problemlos durchgespielt. Da sie nicht darauf achten, wo die „wackeligen“ Stellen sind, können sie diese bei Nachfrage oft auch gar nicht identifizieren. Das kann ziemlich frustrierend sein. Wie können wir bei den Kindern ein Bewusstsein für effektives Üben wecken? Wir sehen sie ja meist nur einmal in der Woche, den Rest der Woche sind sie auf sich alleine gestellt, es sei denn, sie haben Eltern zuhause, die sie beim Üben unterstützen.
"Schwierige" Stellen identifizieren
Es gilt also als erstes zu lernen, die „schwierigen“ Stellen zu identifizieren. Fragen Sie die Schülerin, ob es für sie in Ordnung ist, sie beim Spielen der Etüde (oder eines Ausschnitts davon) zu filmen bzw. eine Audioaufnahme zu machen. Anhand dieser Aufnahme kann sie dann ihre Stolperstellen erkennen und in ihren Noten markieren. Diese Aufnahme dient nicht der Bewertung, sondern lediglich der Identifizierung der „schwierigen“ Stellen. Die Aufnahme kann danach auch sofort wieder gelöscht werden. Das Kind nimmt also einen Bleistift, hört bzw. sieht sich die Aufnahme an, und kreist in den Noten die betreffenden Stellen ein. (So eine Aufnahme können die Schüler dann auch zuhause beim Üben selber machen, heutzutage kann man das ja mit jedem Mobiltelefon.) Es ist viel eindrücklicher, wenn die Kinder mit Hilfe so einer Aufnahme die Stellen selber entdecken, als wenn ich als Lehrperson sie darauf hinweise.
Was genau ist das Problem?
Der nächste Schritt ist, herauszufinden, wo genau das „Problem“ liegt. Ist es ein Saitenwechsel, der mit dem Bogen zu früh oder zu spät ausgeführt wird und daher nicht mit den Fingerwechseln der linken Hand koordiniert ist? Ist es ein Lagenwechsel? Rutscht der Finger zu weit, oder zu wenig weit? Ist der Zielton bekannt? Kann der Zielton vorher gesungen werden? Ist eventuell der Daumen zu angespannt? Werden die Noten korrekt gelesen? Durch Fragen nähern wir uns ganz konkret der eigentlichen Problematik an. Gute Fragen leiten uns genau an den „wunden“ Punkt. Wenn Kinder immer wieder durch gezielte Fragen zu Erkenntnissen gelangen, werden sie eines Tages zuhause beim Üben auch beginnen, sich selber solche Fragen zu stellen. Dadurch wird sich ihr Üben zuhause wesentlich effektiver gestalten.
Eine geeignete Übemethode finden
Wenn wir das Problem identifiziert haben, geht es darum, eine passende Übemethode zu finden. Bei komplexen Saitenwechseln könnte das z. B. sein, die Saitenwechselmuster zuerst nur auf leeren Saiten zu üben. Erst wenn sie geschmeidig ausgeführt werden können, wieder die linke Hand dazu nehmen. Bei Lagenwechseln erst einmal nur den Lagenwechsel allein aufwärts und abwärts üben. Wenn das gut funktioniert, den Rhythmus dazunehmen, dann ein paar Töne davor und danach dazunehmen, usw.
Bei diesem Schritt kann man sehr kreativ sein. Es macht den Kindern großen Spaß, selber eine geeignete Übemethode für ein spezielles „Problem“ zu finden bzw. zu erfinden. Die Stelle wird dann auf diese Art mehrmals wiederholt, in Tempo und Rhythmus variiert, bis sie „rund“ läuft. Alle diese Schritte schulen ungemein die Wahrnehmung des Übenden. Genau das ist es, was das Üben schlussendlich effektiv macht. Diese Schritte gemeinsam durchzugehen heißt nichts anderes, als das Kind zu einem bewussten und effektiven Übeprozess zu führen, der ihm in der Folge auch Erfolgserlebnisse beschert.
Die Stelle wieder in den Kontext einbauen
Kann die „schwierige“ Stelle dann problemlos gespielt werden, muss sie wieder in den musikalischen Kontext eingebaut werden. Dies darf auch schrittchenweise geschehen, z. B. einen Ton davor und einen danach dazunehmen, dann einen Takt davor und einen danach, dann 2 Takte davor und danach, bis die Stelle fließend im Kontext gespielt werden kann.
Es kann sein, dass eine dieser „Problemstellen“ am nächsten Tag wieder etwas „holpert“. Dann einfach die ganzen Übeschritte der Reihe nach wieder so ausführen wie am Vortag. Wiederholt man diese Prozedur einige Tage lang hintereinander, prägen sich die Bewegungsabläufe so im Gehirn ein, dass sie wie automatisch ablaufen. Die Aufmerksamkeit kann sich nun wieder voll und ganz der musikalischen Gestaltung des Stückes widmen.
Je mehr wir die Kinder zu einer eigenen Problemlöse-Kompetenz führen, desto eigenständiger und leidenschaftlicher werden sie üben und sich dabei zu selbstbestimmten Musikerpersönlichkeiten entwickeln, mit denen wir mit Freude „auf Augenhöhe“ gemeinsam musizieren!
Kannten sie den Spruch „Zuhause konnte ich es noch…“ auch? Wie gehen Sie damit um? Wie reagieren sie darauf? Schreiben Sie gerne Ihre Erfahrungen in den Kommentar!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Sehr geehrte Frau Holzer-Rhomberg – vielen Dank für Ihre Hinweise, die mich in meiner Strategie bestärken – die Idee mit der Aufnahme schwieriger Stellen zur Analyse werde ich gerne aufnehmen.
Bei einem neuen Stück versuche ich gemeinsam mit dem Schüler die schwierigeren Stellen zu erkennen, bevor er anfängt zu üben, auch beim gemeinsamen Hören des Play along versuchen wir übelintensivere Stellen ausfindig zu machen.
LG
Eva Röll
Vielen Dank, liebe Frau Röll! Ja, es macht Sinn, die übeintensiveren Stellen schon vorher zu erkennen und sogar schon Vorübungen für diese zu entwickeln. Das kann eine Menge Übezeit ersparen. Es macht insofern auch Sinn, dass man dann die spieltechnischen Herausforderungen nicht unbedingt an diesem Stück „abarbeiten“ muss, sondern bereits gut vorbereitet in das neue Musikstück hineingehen kann!
Herzliche Grüße,
Andrea
Es kann auch sein, dass das „für-jemanden-anderen-vorspielen“ trainiert werden muss, deswegen empfehlenswert: vor dem Unterricht für die Familie/Freunde vorzuspielen.
Danke für diesen Gedanken, liebe Eve! Ja, auch das Vorspielen muss geübt werden! Selbst das Vorspielen für den Lehrer im Unterricht ist eine besondere Situation, die sich vom Üben „im stillen Kämmerlein“ doch sehr unterscheidet. Auch das Durchspielen eines Stückes muss trainiert werden, wenn man die einzelnen schwierigeren Stellen bereits gut geübt hat! Das Durchspielen erfordert bei längeren Stücken ja auch eine gewisse Kondition!
Herzliche Grüße,
Andrea
Liebe Andrea,
ja, den Satz kenne ich natürlich auch. Zuerst einmal sage ich meinen Schülerinnen, dass ich es ihnen glaube.
Danke für all deine Vorschläge!
Ich möchte nur ein bisschen ergänzen wie wir den „Irrtümern“ z.T. vorbeugen können (klappt natürlich längst nicht immer). Wenn wir schon einige Jahre unterrichten, kennen wir die Fallstricke eines Stücks ja ziemlich gut, weil die Kinder oft an denselben Stellen „Fehler“ machen. Ich hatte gerade mit einer kleinen Schülerin ein Stück, in dem sie wie die meisten vor ihr, gebundene Viertel als Achtel spielte (Verwechslung von Bögen und Balken). Ich hätte eigentlich beim ersten gemeinsamen Erarbeiten (langsam zusammen durchspielen) genau auf diese Takte aufmerksam machen und sie oft wiederholen müssen. Habe ich verpasst und leider passiert es der Schülerin immer noch, denn etwas wieder zu VERlernen ist nicht so leicht.
Manchmal ist das Problem, dass – fortgeschrittenere – Schülerinnen in ein Stück reinstolpern. Da habe ich mir angewöhnt, mit ihnen zu gucken, was „vorne“ steht – Vorzeichen und Taktart. Schwierigkeiten gibt es natürlich vor allem bei Dreiachtel- oder Sechsachteltakten. Wir kümmern uns z.B. zuerst einmal um die Tonart, spielen eine Tonleiter und evtl. Dreiklänge. Wir üben den Rhythmus und setzen ihn auf der Geige um, zuerst vielleicht auf leeren Saiten, weil die Betonung mal mit Abstrich und mal mit Aufstrich ist – eine Herausforderung. Damit versuche ich zu erreichen, dass die Kinder gut in ein neues Stück starten können.
Ja, und wenn zu viel „schief“ geht, muss ich mir eingestehen, dass ich vielleicht das Stück nicht gut ausgesucht oder den Einstieg zu schwierig gestaltet habe. Und wir können gemeinsam entscheiden, ob wir es weiter erarbeiten wollen – falls eine Schülerin das Stück gerne mag und lernen möchte.
Liebe Andrea, du sprichst die Problemlöse-Kompetenz der Schülerinnen an. Das finde auch ich sehr wichtig. Ich benutze da ein paar Merksätze, z.B. für Saitenwechsel: „Erst kippen, dann streichen“ und hatte gerade vor kurzem mit einem mittlerweile erwachsenen Schüler den Spaß, ihn zu fragen: „Warum klingt das noch ein bisschen durcheinander?“ und er antwortete mir grinsend genau mit diesem Satz
Liebe Grüße und ich freue mich auf die nächsten Themen
Irmgard
Liebe Irmgard,
vielen Dank für Deinen so ausführlichen und wertvollen Beitrag! Durch Deine Worte leuchtet wieder ein Mal Deine riesige Unterrichtserfahrung und Dein großes Einfühlungsvermögen für jeden Schüler durch! Danke, dass Du Deine Erfahrungen und Vorgehensweisen mit uns teilst!
Ganz liebe Grüße nach Hamburg,
Andrea
Das Kompliment gebe ich sehr gerne zurück! Ich habe durch den regen Austausch hier schon tolle Anregungen bekommen.