Auswendig spielen ohne Panne?
Kennen Sie diese Erfahrung auch aus Ihrer Ausbildungszeit? Sie spielten ein Stück auswendig und es lief wunderbar. In dem Moment aber, als Sie bewusst darüber nachdachten, wie die Melodie jetzt weitergeht, stockten Sie und wussten nicht mehr weiter …
Genau so geht es heute oft unseren Schülern. Besonders unangenehm ist es natürlich, wenn so eine Gedächtnis-Panne auf der Bühne passiert. Sie haben sicher während der Jahre Ihres Studiums für sich selbst eine Methode gefunden, die Sie problemlos und ohne Pannen Musikstücke auswendig spielen ließ. Wie aber können wir unsere jungen Schüler von allem Anfang an unterstützen, Musikstücke auch auswendig zu lernen und vorzutragen, ohne Pannen dieser Art?
„Fingergedächtnis“
Wenn die Kinder ein Musikstück lieben, wiederholen sie es meist so oft, dass sie es bald ohne Noten spielen können. Es läuft motorisch problemlos ab, die meisten Abläufe sind sozusagen automatisiert. Das heißt aber noch nicht, dass das Kind das Stück wirklich bewusst auswendig spielen kann. Das können Sie leicht testen: Unterbrechen Sie an einer Stelle und fragen Sie, ob das Kind die Melodie ab dieser Stelle weitersingen könnte. Oder ob es weiß, welche Töne als nächstes kommen. Welche Finger in welcher Lage mit welchen Strichen als nächstes zu spielen sind. Sicher kennen Sie die Antwort.
Struktur des Musikstückes
Wenn ich mit einem Kind ein Musikstück auswendig lerne, schauen wir uns immer zuerst die Struktur des Stückes an: Wie ist es aufgebaut? Was gibt es für Motive, was für Rhythmen? Welches sind die Hauptthemen? Über wieviele Takte erstreckt sich ein Motiv bzw. eine Phrase? Gibt es Variationen oder Wiederholungen? Gibt es so etwas wie Frage und Antwort?
Im nächsten Schritt erkunden wir, wie die einzelnen Phrasen aufgebaut sind: Kommen Teile einer Tonleiter vor? Oder bestimmte Intervalle, die wir von der Solmisation her schon kennen? Können wir die Phrase auch singen? Können wir sie „innerlich“ hören? Was soll diese Phrase ausdrücken? Diese Überlegungen helfen nicht nur beim Auswendiglernen eines Musikstückes, sondern generell beim Üben.
Verschiedene „Merk-Kanäle“
Nun beginnen wir, einen Abschnitt bewusst auswendig zu lernen. Wir verankern ihn über mehrere Lernkanäle im Gedächtnis:
- wir singen die Melodie und stellen uns die Melodie dann innerlich vor (vom Hören zum inneren Hören)
- wir lesen die Noten und prägen uns das Notenbild ein (visualisieren)
- wir achten beim Spielen bewusst auf die Fingersätze und Striche und spielen die Stelle anschließend „auf der Luftgeige“ (mental) mit den richtigen Fingersätzen und Strichen
Auf diese Art wird die betreffende Stelle ganz bewusst vernetzt und im Gedächtnis verankert. Wenn man jetzt nachdenkt, wie die Melodie weitergeht, weiß man es ganz klar. Man weiß auch, welchen Finger auf welcher Saite in welcher Lage und mit welchem Bogenstrich man als nächstes spielt. Wenn man ein Musikstück auf diese Art bewusst auswendig lernt, „kennt“ man es wirklich. Da gibt es keine „Gedächtnis-Pannen“ mehr.
Zeit
Natürlich braucht es eine gewisse Zeit, ein Musikstück so zu üben, aber es lohnt sich sehr. Die Kinder verstehen den Aufbau des Stückes, was schließlich sehr zu einer stimmigen Interpretation beiträgt. Die Vorstellungskraft wird intensivst geschult: Das innere Hören einer Melodie, das Visualisieren eines Notenbildes, das Spüren des Greifens und Streichens, die Körperwahrnehmung.
Beginnen Sie mit Ihren Schülern am besten mit ganz kurzen Passagen. Üben Sie so eine Passage in den oben genannten Varianten mit dem Kind im Unterricht durch, bis sie wirklich „sitzt“. Das gibt dem Kind die Sicherheit und das Vertrauen, dass es bei der nächsten Passage auch klappt. Mit jeder Passage und mit jedem Stück geht es leichter. Es ist wie mit einem Muskel, den man regelmäßig trainiert.
Ein Musikstück so tief zu verstehen und so sicher auswendig vortragen zu können steigert ungemein das Selbstvertrauen der jungen Musiker! Und es entwickelt sich eine tiefe musikalische Erlebnisfähigkeit!
Schreiben Sie mir gern Ihre Erfahrungen oder hinterlassen Sie einen Kommentar. Ich freue mich auf Ihre Meinung!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Frau Holzer-Rhomberg,
Dieses Thema kommt gerade rechtzeitig, da eine Schülerin von mir einen wichtigen Auftritt in 2 Wochen hat. Ich muss auch sagen dass manche professionelle Solisten/innen Ihre Wörter beherzigen sollten. Schöne Grüße, Catherine Pietsch
Liebe Frau Pietsch,
besonders bei Auftritten ist es unabdingbar, dass man sich beim Auswendigspiel sicher fühlen kann. Darum ist es auch so wichtig, dass man ein Stück – auch wenn man es „mechanisch“ bereits auswendig spielen kann, noch bewusst auswendig lernt! So vermeidet man die unerwünschten Gedächtnislücken! Ich wünsche Ihrer Schülerin viel Erfolg bei ihrem Auftritt!
Beste Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg