Einer unterrichtet, zwei lernen
Kürzlich durfte ich wieder einmal erfahren, wie viel Freude es macht, ein sehr junges Kind, also noch im Vorschulalter, auf der Geige zu unterrichten. Der Junge war viereinhalb Jahre alt und hatte gerade einmal die ersten Geigenstunden hinter sich. Mit seiner ansteckenden kindlichen Begeisterung zeigte er mir, was er bereits alles gelernt hatte. Während dieser sehr kurzweiligen Unterrichtseinheit mit dem kleinen Jungen ist mir wieder einmal bewusst geworden, wie wahr doch dieser Spruch ist: Einer unterrichtet, zwei lernen. Doch was genau kann ein Unterrichtender beim Unterricht mit einem Vorschulkind lernen?
Das Kind abholen
Als erstes gilt es, herauszufinden: Wo kann ich das Kind abholen? Wo steht es? Dies gilt sowohl für seine momentane Stimmung und Tagesverfassung, als auch für sein Lernniveau. Ich muss mich ganz auf das Kind einlassen, um eine ehrliche persönliche Beziehung zu ihm herzustellen. Nicht oberflächlich, nein, ich muss mich wirklich dafür interessieren, wie es ihm gerade geht. Das ist die Voraussetzung für einen gelingenden „Lern-Austausch“. Im nächsten Schritt kann ich dann herausfinden, wo im musikalischen Lernprozess das Kind steht, und dann entscheiden, welche neuen Lerninhalte ich ihm anbieten werde.
Lerntyp
Bei so jungen Kindern sind Spiele aller Art sehr beliebt. Mit ausführlichen verbalen Erklärungen können Kinder in diesem Alter oft nicht viel anfangen. Wie kann ich also die Lerninhalte – sowohl im spieltechnischen als auch im allgemein musikalischen Bereich – in ein „Spiel“ verpacken? Beim Spiel kann ich dann sehr genau beobachten, worauf das Kind besonders anspricht. Ist es eher ein Bewegungstyp? Kann es sich Dinge gut merken, die es hört? Spricht es auf Bilder besonders gut an? Am besten ist es, zu jedem Lerninhalt eine Vielzahl an „Spielmöglichkeiten“ im „methodischen Lehrköfferchen“ zu haben, sodass für jeden Lerntyp garantiert etwas dabei ist, das ihn begeistert.
Aufmerksamkeitsspanne
Wie lange kann sich das Kind auf eine Sache konzentrieren? Bei so jungen Kindern ist die Aufmerksamkeitsspanne oft nicht länger als drei bis fünf Minuten. Diese Zeitspanne kann man aber erheblich verlängern, indem man im Ablauf einer Unterrichtseinheit mehrmals das „Programm wechselt“. Das heißt, ich kann auf einen neuen Lernschritt im Bereich der Spieltechnik, den ich fünf Minuten mit dem Kind übe, einen Lernschritt aus dem allgemein musikalischen Bereich folgen lassen, z. B. ein Spiel, um das Metrum verschiedener Musikstücke spüren zu lernen. Im Anschluss daran, kann ich mit dem Kind ein Spiel zur Vorbereitung auf das Notenlesen spielen, z. B. verschiedene Plätze im Notensystem benennen lernen, indem man auf ein überdimensionales Notensystem am Boden auf die Linien oder in die Zwischenräume stehen kann. Dann könnte die Vertiefung des neuen spieltechnischen Lernschrittes erfolgen, und im Anschluss daran ein Spiel zur Tonhöhenvorstellung usw. …
Auf diese Art bleibt der Unterricht für das Kind immer spannend. Hier gilt es, als Lehrperson genau zu beobachten. Hat das Kind verstanden, worum es geht? Bringt es eigene Ideen mit ein, die ich als Lehrerin wiederum aufgreifen und weiterführen kann? So entsteht ein lebendiger „interaktiver Lernaustausch“, der sowohl für das Kind als auch für den Lehrer sehr bereichernd ist. Wie gesagt: Einer unterrichtet, zwei lernen.
Lernen
Diese Art von Unterricht ist also nicht eine „Einbahnstraße“ von „oben nach unten“. Nicht nur der Schüler lernt, sondern auch der Lehrer. Vor allem von so jungen Kindern können wir uns einiges an Leichtigkeit und Unbekümmertheit abschauen, die uns vielleicht im Laufe der Jahre abhanden gekommen ist. Man muss die Dinge nicht immer so machen, wie man sie immer gemacht hat. Auch wir Erwachsene dürfen wieder lernen, die Welt ab und zu mit „kindlichen Augen“ anzusehen und spielerische Wege zu suchen, die uns auch ans Ziel bringen. Der kleine Junge hat mich jedenfalls sehr dazu inspiriert!
Haben Sie auch das Gefühl, dass Sie selber in Ihrem Unterricht genauso Lernende sind wie Ihre Schüler? Wann genau haben Sie dieses Gefühl? Und was macht dieses Gefühl mit Ihnen? Teilen Sie gerne Ihre Erfahrungen mit uns hier im Kommentar!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea, da kann ich dir nur zustimmen.
Die besten Spiele, die ich im Unterricht anwende sind von den Kindern erfunden bzw. weiterentwickelt worden.
Kinder spüren sofort ob es ein „echtes“ Spiel ist, das Spass macht oder ob es ein aufgesetztes – in ihren Augen langweiliges – Lernspiel ist.
Sehr hilfreich war da für mich auch das Buch von Gerald Hüther „Rettet das Spiel“.
Ganz liebe Grüße
Angelika