Fähigkeiten entwickeln versus „Fehler“ ausbessern
Sicher kennen Sie die folgende Situation: Ein neues Musikstück liegt auf dem Notenpult. Sogleich beginnt Ihr Schüler, das Stück vom Blatt zu spielen. Das geht vielleicht zwei Takte lang gut, dann kommt der erste „Fehler“. Hier stoppt der Schüler. Nun geben Sie als Lehrer ihm Hinweise, wie er den „Fehler“ ausbessern kann. Anschließend wird weitergespielt bis zum nächsten „Fehler“. Hier wird nach dem selben Muster verfahren. Ist es eine besonders „schwierige“ Stelle, wird der Schüler wahrscheinlich auch in Zukunft immer etwas angespannt sein, wenn er diese Stelle spielen sollte. Wie können wir von diesem „Fehler ausbessern-Modus“ wegkommen? Wie können wir eher in einen „Fähigkeiten entwickeln-Modus“ hineinkommen?
Reihenfolge
Was ist denn der Unterschied, werden Sie mich jetzt fragen. Der gravierende Unterschied liegt in der Reihenfolge. Wenn ich etwas Neues ausprobiere, dies dann übe und schließlich imstande bin, es in einem Musikstück erfolgreich anzuwenden, erfüllt mich das mit Freude, mit einer Art Genugtuung. Das Belohnungszentrum im Gehirn wird aktiviert.
Wenn ich erst die Erfahrung mache, dass ich diese Stelle nicht spielen kann, dass sie „zu schwierig“ für mich ist, dann vermittelt mir das ein Gefühl von Stress. Auch wenn ich diese Passage dann übe und wieder ins Musikstück einbaue, habe ich immer noch ein Gefühl der Anspannung in mir, weil ich ja mit dieser Stelle bereits eine Erfahrung des „Scheiterns“ gemacht habe.
Wie kann man nun im Unterricht konkret vorgehen, um konsequent Fähigkeiten zu entwickeln und nicht in den „Fehler ausbessern-Modus“ zu verfallen? Dazu möchte ich Ihnen heute 3 Gedanken mit auf den Weg geben.
1. Schwerpunkt setzen
Gerade bei noch nicht sehr fortgeschrittenen Schülern sind wir oft versucht, im Unterricht gleich vier oder fünf Dinge auf einmal ausbessern zu wollen. Das Kind wird dadurch aber hoffnungslos überfordert sein. Lassen Sie doch die Noten des neuen Musikstückes zuerst einmal komplett beiseite. Probieren stattdessen mit dem Kind die neu zu erlernende Griffart, Bogentechnik (oder was auch immer in diesem Stück Neues vorkommt) einfach aus. Erfinden Sie gemeinsam mit dem Kind eine kleine Übung dazu. Testen sie die neue Sache bis an die Grenzen aus, z. B. wie klingt es, wenn ich ganz nahe beim Griffbrett spiele? Oder ganz nahe beim Steg? Oder mit viel Armgewicht? Oder mit wenig? Wo klingt es denn am besten? Setzen Sie in jeder Lektion einen Schwerpunkt. Richten sie den Fokus in jeder Lektion auf eine ganz bestimmte Sache und bauen Sie so Schritt für Schritt eine Fähigkeit bzw. Fertigkeit nach der anderen auf.
2. Planen Sie sorgfältig
Anstatt auf „Unzulänglichkeiten“ der Schüler zu reagieren, planen Sie genau, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten das Kind in welcher Reihenfolge entwickeln soll. Bauen Sie diese in kleine Übungen und Musikstücke ein, bzw. verwenden sie passende Literatur dazu. Haben Sie keine Bedenken, das Kind könnte sich auf diese Weise zu „langsam“ entwickeln. Sie werden die Erfahrung machen, dass das Lernen viel nachhaltiger ist, wenn Sie auf diese Weise vorangehen. Und noch ein Pluspunkt dieser Vorgehensweise: Wenn ein Kind selber verschiedene Varianten „testen“ darf und so zu einem eigenen Fazit kommt, entwickelt es ein Gefühl von Eigenständigkeit, von Kompetenz. (Und schon wieder wird das Belohnungszentrum stimuliert! :)))
3. Behalten Sie das „Große Ganze“ im Auge
Als Lehrer braucht man das „Big Picture“. Es genügt nicht, wenn man die Mosaiksteinchen alle einzeln kennt. Man muss stets das „Große Ganze“ im Auge behalten, um seine Schüler gut führen zu können. Unsere Schüler bleiben ja meist mehrere Jahre lang bei uns im Unterricht, da haben wir genug Gelegenheit, unser Augenmerk auf alle Parameter der Musik und des Instrumentalspiels zu richten, nur eben nicht alles auf einmal. Das heißt aber nicht, dass man in einer Lektion mit Schwerpunkt Spiccato nicht auf Intonation achten darf. Wenn wir z. B. Spiccato im Rahmen eines „Imitier-Spiels“ (vor- und nachspielen) üben, achten wir sehr wohl auf sauber intonierte Töne. Trotzdem ist und bleibt das Hauptthema dieser Stunde das Spiccato, und das soll auch so artikuliert werden.
Ich weiß, die meisten von uns Lehrern sind mit einem Unterricht im „Fehler ausbessern-Modus“ aufgewachsen. Da ist es oft ganz schön schwierig, beim Unterrichten nicht selbst auch in diesen Modus zu verfallen. Wie gehen Sie damit um? Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Guten Abend,
ich möchte das oben Gesagte durch meine Erfahrungen ergänzen.
Oft mache ich mir zunächst Gedanken, welches Stück meine Schüler mögen könnten (unter der Prämisse, dass neue Schritte gelernt bzw. angewendet werden sollen). Manchmal spiele ich ihnen z.B. drei Stücke vor und frage: „Welches möchtest du als erstes lernen?“ Oder ICH lege fest, welches das nächste Stück ist. Auf jeden Fall lasse ich meine Schüler nie alleine ausprobieren, sondern spiele es zu Beginn mit ihnen zusammen – langsam -, weil die Kinder meistens zu schnell loslegen. Vorher klären wir die Tonart bzw. worauf sie achten müssen bezüglich hoher oder tiefer Finger und bei Dreiertakten den Grundrhythmus mit seinen Schwerpunkten. Danach besprechen wir, wo überall neu zu Lernendes aufgetreten ist und machen daraus kleine Übungen. Irgendwie erlebe ich mit meinen Schülern die oben genannten Frustrationen fast nie, weil ich ihnen von Anfang an immer wieder erfahrbar mache, dass „ich kann nicht“ nur bedeutet „ich kann noch nicht“ und ich, deine Lehrerin, sorge dafür, dass du es lernst. Und wenn in einer Stunde etwas überhaupt nicht klappen will, sage ich, dass ich darüber nachdenken werde, dass ich nach neuen Ideen suchen werde, damit es nächstes mal klappt. Ich möchte damit meinen Schülern vermitteln, dass ICH die Verantwortung übernehme und nicht SIE zu doof sind zum Geigen. Das ist mir sehr, sehr wichtig. Wenn meine Schüler in die Stunde kommen, höre ich z.B. Folgendes: „Das klang irgendwie komisch“, „mit der Stelle bin ich nicht zurecht gekommen“, „ich hab da mal ne Frage“, „ich habe diese Woche keine Zeit zum Üben gehabt, weil…“ usw. Wenn ein Kind wirklich mal entmutigt ist, sage ich: „Ich kann dir versprechen, dass du es am Ende dieser Stunde viel besser kannst.“ Das klappt immer. Manchmal hilft auch der Satz: „Jetzt spiel es nochmal und tue einfach so, als wenn du die schwierige Stelle schon kannst.“
Wenn Kinder, die schon etwas länger Geigen, immer eine schwierige Stelle vermeiden, bin ich sehr konsequent und sage: „Keiner hat gesagt, dass Geigen einfach ist. Du musst diese Stelle wirklich üben, da musst du durch – mit oder ohne Lust. Hilft nix. Da lass ich nicht mit mir verhandeln. Und ich gebe dir noch ein paar Tipps wie du diese Stelle auf verschiedene Weisen üben kannst“
Also, meine Überzeugung ist: Wenn die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern stimmt, sind Mutlosigkeit und Frustration kein großes Thema und lassen sich sehr schnell auflösen. Wenn die „Chemie“ allerdings überhaupt nicht stimmt und ich als Lehrerin das Gefühl habe, permanent gegen Widerstände zu arbeiten, muss ich klären, ob es der Wunsch des Kindes ist oder der Wunsch der Eltern, dass das Kind Geige lernt. Wenn das Kind Geige lernen möchte, aber nicht mit MIR, sollte ich nicht beleidigt sein, sondern es an eine andere Kollegin abgeben.