Instrumentales Üben und Gehirnforschung
Es ist doch immer wieder spannend, was die Gehirnforschung an neuen Erkenntnissen über Lernprozesse hervorbringt. Erkenntnisse, die möglicherweise unsere herkömmlichen Übe-Gewohnheiten am Instrument komplett über den Haufen werfen, oder sie uns zumindest überdenken lassen!
In diesem Zusammenhang bin ich kürzlich über einen Artikel „gestolpert“, der von der amerikanischen Bratschistin Molly Gebrian im Journal of the American Viola Society veröffentlicht worden ist. Molly Gebrian ist nicht nur eine bekannte Interpretin zeitgenössischer Musik, sie hat auch mit führenden Wissenschaftlern aus Gehirnforschung zusammengearbeitet.
Was ist die beste Übemethode für einen verlässlichen Bühnenauftritt?
Dieser Frage geht Molly Gebrian in ihrem Artikel nach. Die meisten von uns sind mit einer Art des Übens aufgewachsen, die man Blocked Practice – also „geblocktes“ Üben – nennt: Man übt eine ausgewählte Passage, indem man sie in perfekter Abfolge eine gewisse Anzahl mal wiederholt. Dann erst geht man zur nächsten Passage weiter und übt diese auf dieselbe Weise. Diese Art zu üben ist z. B. sehr gut, um neue Bewegungsabläufe im Bewegungsgedächtnis zu verankern, oder um neue Stücke zu lernen, keine Frage. Führt uns diese Art des Übens aber auch zu einem gelungenen Bühnenauftritt?
Random Practice - "zufälliges" Üben
Bei einem Auftritt haben wir nicht die Möglichkeit, eine „schwierige“ Passage drei Mal zu spielen, bis sie dann wirklich zu unserer Zufriedenheit gelingt! Beim Auftritt muss sie aber beim ersten Mal „sitzen“. Wir haben auf der Bühne nur diese eine Chance. Deshalb müssen wir auch lernen, die Dinge gleich beim ersten Mal „perfekt“ hinzukriegen. Doch wie kann man so etwas üben?
Hier kommt Random Practice – das „zufällige Üben“ – ins Spiel. Man übt hier also nicht mehr die eine Passage z. B. 20 x, bis sie „perfekt“ klingt, und geht dann erst zur nächsten weiter, sondern „würfelt“ sozusagen die verschiedenen Passagen durcheinander. Das hat zur Folge, dass das Gehirn sich immer sofort auf die „neue“ Passage einstellen muss und dadurch zu hundert Prozent aufmerksam bleibt. Diese Vorgehensweise kommt der Arbeitsweise des Gehirns während eines Auftritts wesentlich näher. Man muss gewissermaßen auf alles gefasst sein und bestmöglich darauf reagieren. Man lernt, sich ganz genau auf das Jetzt und die jetzige Aufgabe zu fokussieren. Im Sport haben unzählige Studien bewiesen, dass dieses „zufällige“ Üben im Endeffekt wesentlich bessere Ergebnisse bringt, als das „geblockte“ Üben, obwohl sowohl die Gesamt-Übezeit als auch die Anzahl der Wiederholungen bei beiden Übearten gleich war.
Was können wir für uns und unsere Schüler daraus lernen?
Wir könnten andere als unsere gewohnten Übe-Routinen ausprobieren und sie in unser Üben integrieren. Selbstverständlich muss zuerst der Notentext eines Stückes erlernt werden, und die Bewegungsabläufe müssen in der richtigen Reihenfolge im Gedächtnis verankert werden. Dann aber, in einem nächsten Schritt, könnten wir uns einmal auf das Serial Practice – das „serielle“ Üben – einlassen, das Molly Gebrian wie folgt beschreibt: Man wählt ungefähr vier bis sieben anspruchsvolle Passagen aus dem bereits geübten Stück aus. Jede Stelle bekommt einen Post-it-Sticker. Nun spielt man die erste Passage. Nur ein einziges Mal. Ist sie gut, schreibt man einen Strich auf den Sticker, ist sie noch nicht gut, schreibt man keinen. Nun macht man dasselbe mit der zweiten Passage, mit der dritten usw. Wenn man durch ist, beginnt man wieder von vorne. Steht bereits ein Strich bei einer Passage und man spielt sie in der neuen Runde nicht gut, radiert man den Strich wieder weg und muss von vorne mit den Strichen beginnen. So arbeitet man sich durch alle „schwierigen“ Stellen durch, bis alle mindestens fünf Striche haben.
Im nächsten Schritt kommt nun das „zufällige“ Üben dran. Man stellt einen Timer ein, sodass er alle fünf Minuten klingelt. Nun beginnt man zu üben. Tonleitern, Etüden, ein neues Stück, alles, was so zur täglichen Übe-Routine gehört. Klingelt der Timer, unterbricht man sofort und spielt die Passage 1 aus dem vorigen Schritt. Nur ein einziges Mal. Wie im Konzert. Auch wenn die Passage nicht zur Zufriedenheit gelungen ist, übt man sie jetzt nicht, sondern setzt die vorige Übe-Routine fort. Wenn der Timer das nächste Mal klingelt, unterbricht man und spielt die Passage 2 aus dem vorigen Schritt. So kann man klar erkennen, welche Passagen auf Anhieb gut gespielt werden können und welche noch Auseinandersetzung benötigen.
Aufmerksames Üben ist ein immer besseres Kennenlernen der Funktionsweise unseres Gehirns
Unser Gehirn ist ein kleines Wunderwerk, von dem wir noch relativ wenig wissen. Aufmerksames Üben und das genaue Beobachten der erzielten Ergebnisse bringt uns den Lernmechanismen unseres Gehirns immer näher. Das ist eine spannende und sehr lohnende Aufgabe!
Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesem Beitrag neugierig auf den Artikel von Molly Gebrian machen. Den ganzen Artikel zum Nachlesen finden Sie hier.
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea, das klingt ja sehr spannend. Vielen Dank und liebe Grüße, Irmgard