Ist mein Kind talentiert?
Die Frage „Ist mein Kind talentiert?“ taucht immer wieder auf. Manche Eltern unserer Schüler möchten gerne von uns Lehrpersonen eine Einschätzung über die „Begabung“ ihres Kindes erhalten. Natürlich würde es alle Eltern stolz machen, wenn man ihnen „bescheinigte“, ein „talentiertes“ Kind zu haben. Oder – der umgekehrte Fall: Wenn bei einem Schülervorspiel ein Kind besonders gut vorspielt, sagen sie sich, dass dieses Kind eben besonders talentiert sei, talentierter als ihr eigenes Kind, und nehmen das quasi als „Entschuldigung“ für eine eher bescheidene Leistung ihres Kindes. Talent wird sozusagen als „Schicksal“ angesehen. Oder als von Geburt an gegeben oder eben nicht gegeben. Nach dem Motto „Fortuna verteilt ihre Gaben …“
Wunderkinder
Wir alle wissen, dass eine gute spieltechnische, musikalische und persönliche Entwicklung mit sehr viel Arbeit, bzw. mit sehr viel Beschäftigung mit der Materie – wenn man das Wort Arbeit in diesem Zusammenhang nicht verwenden möchte – verbunden ist. Jeder Musiker hat sehr viel Zeit, persönliches Engagement und Herzblut in diese Entwicklung investiert. Viele bekannte und berühmte Musikerpersönlichkeiten, die in ihren frühen Jahren als „Wunderkinder“ bezeichnet und gehandelt wurden, haben sich wehement gegen diesen Begriff gewehrt und klar gestellt, dass ihre Leistung auf konsequenter intensivster Arbeit basiert.
Ist mein Kind talentiert?
Wie können wir nun auf so eine Frage professionell reagieren? Selbstverständlich können wir im Unterricht Unterschiede in der Entwicklung der einzelnen Kinder feststellen, wie auch nicht? Jeder Mensch ist einmalig mit seinen Genen, seinen vorgeburtlichen Erfahrungen und seinen bisherigen Lebenserfahrungen. Aber eines ist allen Menschen gemeinsam: Wir alle (sofern wir nicht an einer Krankheit leiden, die unsere kognitiven Möglichkeiten einschränkt) haben die Fähigkeit, uns weiter zu entwickeln. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. Der Mensch ist lernfähig bis ins hohe Alter. Jedes Kind ist lernfähig. Kinder in Frankreich lernen problemlos französich. Kinder in Japan lernen problemlos japanisch. Junge Menschen, die in einem Schigebiet wohnen, lernen Schifahren. Was lernen wohl Menschen, die von klein auf in einem Umfeld mit Musik aufwachsen?
Einschränkendes Denken
Die Frage nach dem „Talent“ kann eine sehr einschränkende Wirkung haben. Wenn ein Mensch von sich selber denkt, er sei nicht talentiert, dann schränkt ihn das in seiner Entwicklung definitiv ein. Wenn ich einem Kind also – bewusst oder unbewusst – als Elternteil oder als Lehrer – vermittle, es sei nicht besonders talentiert, dann wird sich das auf seine Entwicklung tatsächlich begrenzend auswirken. Es wird sich selber keine guten Fortschritte zutrauen. Die Frage ist: Will ich die Entwicklung meines Kindes bzw. meines Schülers wirklich durch „einschränkendes“ Denken limitieren?
Kausaler Zusammenhang zwischen Arbeit und Fortschritt
Viel eher sollten wir die Kinder (und damit auch die Eltern unserer Schüler!) den kausalen Zusammenhang zwischen persönlichem Engagement und einem guten Ergebnis ganz persönlich „erfahren lassen“. Wie? Dazu möchte ich Ihnen 3 konkrete Tipps mit auf den Weg geben:
- Üben Sie mit dem Kind im Unterricht eine Stelle geduldig so lange, bis sie gut „funktioniert“. So kann das Kind ganz konkret „am eigenen Leib“ den kausalen Zusammenhang erfahren: Üben erzeugt Fortschritt.
- Geben Sie dem Kind seinem Alter und Entwicklungsstand entsprechende Übeanleitungen und „Übetools“ wie z. B. die Übe-Zauberkügelchen, den Übe-Kreisel oder dergleichen mit nach Hause, sodass es genau weiß, wie es das Üben angehen soll.
- Holen Sie die Eltern mit ins Boot. Die Eltern haben die Aufgabe, ihre Kinder beim Üben zu Hause immer wieder wohlwollend zu ermutigen. Sie haben die Aufgabe, ein Vorbild in Sachen „Engagement führt zu Erfolg“ zu sein. Das erfordert von uns Lehrern einen guten Kontakt zu den Eltern unserer Schüler, ein gewisses „Vertrauensverhältnis“. Die Eltern brauchen die Gewissheit, dass Sie als Lehrer das Kind nach bestem Wissen und Gewissen fördern und fordern, dann sind sie auch gerne bereit, ihren Anteil der Aufgabe zu übernehmen.
Am gleichen Strang ziehen
Wenn alle Beteiligten „am gleichen Strang ziehen“, führt das unweigerlich zu Fortschritt. Es wird die Möglichkeit geschaffen, Fähigkeiten zu entwickeln bzw. vorhandene Fähigkeiten zu erweitern, egal wie vermeintlich talentiert oder nicht talentiert das Kind ist. Es geht doch darum, dass jedes Kind sein eigenes Potential entdeckt und frei entfalten kann! Ein Mensch, der sich in einem inspirierenden Umfeld entwickeln darf, seine eigenen Potentiale individuell entfalten kann, wird in seinem Leben glücklich sein!
Wie gehen Sie mit der Frage nach „Talent“ um? Was für Erfahrungen haben Sie diesbezüglich? Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Im Sinne einer besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, selbstverständlich beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter.
So schöne Anregungen! Vielen Dank!
Ich bin auch ganz der Meinung, dass jedes Kind sein Potential entdecken und entfalten soll so gut als möglich und dass dieser Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung eigentlich sehr im Vordergrund steht. Nur relativ wenigen ist es doch tatsächlich gegeben, dass soviele Komponenten stimmig sind, um zu allgemein anerkannten Höchstleitungen zu gelangen. Schön, wenn es so ist, aber genauso schön für alle anderen, die in Ihrem Rahmen ihre individuellen Höchstleitungen zu erringen suchen. Wichtig doch, dass sie suchen und solange sie Freude daran haben, ermuntern wir sie doch dazu nach unseren besten Möglichkeiten als Lehrer, um ihr Potential zu finden und sich selbst gut zu finden, so wie sie sind und was sie schaffen können, das macht die Kinder stabil und glücklich.
Liebe Frau Holzer-Rhomberg,
ich freue mich immer wieder über Ihre Art der Sicht auf die Dinge, die uns bewegen. Über das „Talent“ meiner Schüler habe ich mir noch nie Gedanken gemacht (eher über mein „Talent“ als Lehrerin). Es geht doch darum, zu erkennen und zu erspüren, wie ich den jeweils nächsten Lernschritt bei genau diesem Kind in die Wege leite. Wenn mich Eltern fragen, ob ich meine, ihr Kind sei begabt für die Geige, sage ich ihnen, dass die Hauptsache ist, dass es LUST darauf hat – und bereit ist, auch mal ohne Lust zu üben und dass sie als Eltern es freundlich und interessiert begleiten. Alles andere kriegen wir hin. Wenn ein Kind noch nie gesungen hat, lernen wir eben auch Singen. Usw. Ich sage auch, dass ich es im Gegensatz zur Schule ganz toll finde, Einzelunterricht zu geben und mit jedem Kind in SEINEM Tempo vorangehen kann und dass es ganz normal ist, dass einige Kinder aufgrund bestimmter Voraussetzungen „schneller“ und andere eben „langsamer“ sind. Die Hauptsache ist, dass es am Ende immer schön klingt und dass es das tut, dafür werde ich sorgen – ich werde alles vermeiden, was mit Kratzen und Quietschen zu tun hat.
Ein guter Kontakt zu den Eltern ist wirklich sehr wichtig. Es kommt ja vor, dass man mit den Eltern über Hänger beim Üben, Umbau des Gehirns in der Pubertät usw. reden muss. Manchmal muss man auch die Eltern ermutigen, die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Ich versichere ihnen ebenfalls, dass ich mich melde, wenn ICH das Gefühl habe, dass irgendetwas nicht stimmt.
Es ist großartig, wenn man ab und zu Schüler hat, die unglaublich schnell lernen, alles sofort umsetzen können, was man sich wünscht usw. Gelernt habe ich aber mehr von den Schülern, bei denen ich große Fragezeichen im Kopf hatte, wieso sie das jetzt nicht kapieren, was das Stück oder ich von ihnen will.
Ich habe mir irgendwann als Devise zugelegt: Es gibt keine untalentierten Kinder, sondern nur unflexible Lehrer. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Dem Geschriebenen stimme ich voll zu.
Oft fragen Eltern ängstlich: Ist mein Kind überhaupt musikalisch?
Dahinter stehen manchmal Kränkungen der Eltern in ihrer Kindheit durch deren Lehrer. Eltern haben oft Angst, ihre Kinder könnten versagen und dieses Versagen würde ihrer Entwicklung schaden. Einerseits ermutige ich Eltern, den Kindern eine Chance zu geben, weise aber auch darauf hin, dass es für das Kind,wichtig ist, dass sie auch ermutigend zur Seite stehen!
Ja, die Ermutigung durch die Eltern finde ich ganz wichtig! Wenn Eltern auch nur denken, das schafft mein Kind sowieso nicht, spürt das Kind das, und traut sich dann oft selber nichts mehr zu! Deshalb ist es so wichtig, den Eltern das klar zu machen und sie ermutigend mit ins Boot zu holen!