Perfektionismus beim Musizieren
Ist Perfektionismus beim Üben und Musizieren eher förderlich oder hinderlich? Inwiefern bringt uns Perfektionismus weiter und wo kann er sogar schädliche Auswirkungen haben? Um diese Fragen geht es im heutigen Blogartikel.
Was ist Perfektionismus?
„Perfektionismus ist ein psychologisches Konstrukt, das versucht, übertriebenes Streben nach möglicher Perfektion und Fehlervermeidung zu erklären. Der Perfektionist legt sich selbst auf, die eigenen Handlungen fehlerfrei und vollkommen ausführen zu müssen.“ So kann man es in Wikipedia nachlesen.
Ist es denn verwerflich, wenn man etwas fehlerfrei ausführen möchte? Streben wir Musiker nicht alle danach, unsere Spieltechnik immer mehr zu perfektionieren? Und – wenn wir in ein Konzert gehen, erwarten wir da nicht auch eine nicht nur musikalisch lebendig gestaltete, sondern auch eine spieltechnisch brillante Aufführung? Ja geht denn eine überzeugende musikalische Gestaltung nicht immer mit einer gut entwickelten Spieltechnik Hand in Hand? Ist denn das eine ohne das andere überhaupt möglich?
Die guten Seiten des Perfektionismus
Perfektionismus ist per se nichts Schlechtes. Es macht doch Freude, wenn man durch regelmäßiges Training einer Sache diese immer besser ausführen kann. Es ist doch interessant, wenn man beim Üben bemerkt, dass eine Passage noch nicht zufriedenstellend gespielt werden kann, und man sich dann Gedanken darüber macht, woran das konkret liegen könnte und dann neue Wege sucht und findet, um das Problem zu lösen. Es ist doch äußerst inspirierend, das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen und achtsam zu bleiben. Ich denke, nur so kann man sich weiterentwickeln: Wenn man genau hinsieht bzw. hinhört und hinfühlt und offen ist, neue Wege auszuprobieren, um ans Ziel zu kommen.
Wann wirkt sich Perfektionismus schädlich aus?
Der Punkt, an dem sich Perfektionismus schädlich auszuwirken beginnt, ist meiner Meinung nach, wenn man die sogenannten „Fehler“ auf sich selber als Person bezieht, und nicht auf ein eventuell noch „ungünstiges“ Handeln. Ein „ungünstiges“ Handeln, z.B. an der für eine Passage unpassenden Kontaktstelle streichen, kann ich verändern. Beziehe ich aber ein unbefriedigendes Ergebnis auf mich als Person, empfinde ich mich selbst als unfähig, als Versager. Wir wissen alle, wie sich das auf das Selbstwertgefühl auswirkt.
Deshalb ist es für uns als Pädagogen so eminent wichtig, den Kindern eine förderliche Fehlerkultur zu vermitteln. Eine Kultur, in der ein noch nicht befriedigendes Ergebnis nicht als persönliches Versagen angesehen wird. Eine Kultur, in der „Fehler“ freundliche Wegweiser sind, die uns enorm weiterbringen können, wenn wir sie als solche betrachten und offen ihre Botschaft annehmen. Auf diese Weise kann eine sehr positive Lernatmosphäre entstehen und eine starke innere Motivation zur eigenen Weiterentwicklung.
Was für Erfahrungen haben Sie mit Perfektionismus bei Ihren Schülern? Über einen Austausch darüber hier in den Kommentaren würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Bei diesem Thema fällt mir immer ein kleiner Schüler ein, der recht vielversprechend begonnen hatte, aber dann bald das Handtuch geworfen hat. Seine Mutter hat mit erzählt, dass er beim häuslichen Üben immer furchtbar wütend auf sich selbst war, wenn es nicht so geklappt hat wie erwartet. Ich hatte versucht, ihm zu vermitteln, dass er nicht perfekt zu sein braucht, aber es ist wohl nicht genügend bei ihm angekommen. Meiner Meinung nach gehört bei allem Streben nach Perfektion beim Geigelernen auch eine gewisse Frustrationstoleranz dazu…
Herzliche Grüße
Annette Baumann
Kinder, denen vieles leicht von der Hand geht, tun sich oft schwer anzuerkennen, dass es auch Dinge gibt, die man eine Zeit lang konsequent üben muss, bis man sie beherrscht. Da ist es wichtig, dass man lernt, nicht „schwarz-weiß“ zu denken, z.B. „ich kann etwas, oder ich kann es nicht“, sondern dass man lernt, dass das Lernen ein Prozess ist, der schrittweise erfolgt. Auch Kinder können lernen, die kleinen Fortschritte anzuerkennen und nach einer Übe-Session mit sich selbst zufrieden zu sein, auch wenn noch nicht alles perfekt läuft. Mit dieser „Geisteshaltung“ kommt man allerdings nicht auf die Welt, und es ist gut, wenn man sie von wichtigen Bezugspersonen lernen darf.
Herzliche Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg
Liebe Andrea,
ja, das sind alles Dinge, die wichtig sind für die Persönlichkeitsbildung, und das Kind und auch der/die Erwachsene kann damit auch für viele andere Bereiche des Lebens profitieren, nicht nur fürs Geigespielen…Allerdings frage ich mich, wieviel man in dieser Hinsicht in einer halben Stunde Unterricht in der Woche leisten kann. Für kleine Kinder sind einfach die wichtigsten Bezugspersonen zunächt die Eltern. Ich kann versuchen, für das Kind ein Vorbild zu sein, aber ich glaube einfach, dass es da gewisse Grenzen gibt. Es ist auch ein Stück weit eine Erleichterung für mich, anzuerkennen, dass ich nicht für die komplette Entwicklung eines Kindes verantwortlich bin…
Freundliche Grüße
Annette
Liebe Andrea,
vielen Dank für deinen schönen Artikel. Besonders die Wertung eines Fehlers als “ freundlichen Wegweiser“ fand ich so wichtig. Damit bekommt der Fehler seine wirkliche Aufgabe!
Mir sind zwei Dinge dazu eingefallen. Das eine hatte ich früher schon einmal erwähnt. Das ist die Basis zwischen Lehrer und Schüler:Mit Wertschätzung und Vertrauen kann der Umgang mit Fehlern auch einfacher gestaltet werden. V.a. bei den jüngeren Schülern. Sie spüren dann, daß an einem Punkt noch gearbeitet werden muss. Und daß das natürlich überhaupt nichts mit ihnen als Mensch zu tun hat. Schwieriger gestaltet es sich z.B. mit Erwachsenen. Einerseits durch ihre Erfahrungen, die sie schon in verschiedenen Bereichen gemacht haben und aber auch- v.a. wenn sie viel Musik hören, bzw. Erfahrung mit Musik haben- daß sie den perfekten Klang im Ohr haben und manchmal verzweifeln, wenn sie diesen Klang noch nicht erreichen. Ich führe ihnen dann vor Augen, wieviel davon schon zu hören ist. Daß sie vielleicht früher schon einmal den Eindruck hatten, eine bestimmte Stufe nicht erreichen zu können. Und es mit Geduld dann doch irgendwann geschafft haben. Auch hier ist die Wertschätzung und Ehrlichkeit wieder die Basis, auf der diese erwachsenen Schüler einen Blick dafür entwickeln können,daß sie gewisse Punkte eines perfekten Klanges schon erreicht haben. Und dann mit Zuversicht an die nächsten Schritte gehen. Ohne Angst, zu wenig leisten zu können, sondern mit Selbstvertrauen.
Liebe Grüße, Iris
Liebe Iris,
vielen Dank für diesen wertvollen Kommentar!
Herzlichst,
Andrea
Liebe Andrea!
Das ist toll, dass Du dieses Problem ansprichst, es begegnet uns immer wieder und immer wieder muss man sich erneut damit auseinandersetzen. Meinen Vorrednerinnen möchte ich folgendes noch dazu beisteuern:Ich habe von einer kleinen Schülerin im Grundschulalter gelernt, die mir von ihrer Turnlehrerin erzählte. Diese pflegte den Kindern zu sagen:“ Sage nicht, ich kann das nicht, sondern, ich kann das noch nicht!“ Seither wende ich diesen Satz selbst immer wieder an, damit die Schüler sehen, dass ich Vertrauen in sie setze und es mit etwas Übung schon klappen wird. Sie sehen, sie haben es selbst in der Hand und etwas zu können ist nicht talentabhängig.
Liebe Grüße und danke für dieses nette, lehrreiche Forum!
Silke
Liebe Silke,
vielen Dank für diesen Beitrag! Wie inspirierend von dieser Turnlehrerin! Dieses kleine Wörtchen „noch“ kann ein negatives Gefühl sofort in Motivation umwandeln!
Herzliche Grüße,
Andrea
Vor einem Auftritt sage ich zu meiner Schülern:
„Fehler sind unerwünscht, aber nicht verboten. Hauptsache, man macht Musik!“
„MUT TUT GUT!“
Ich hoffe dass mit diesen Wörtern Spannungen abzubauen.
Gesunde Grüße,
Catherine Pietsch
Danke für diese wertvolle Anregung, das ist ein wichtiges Thema!
Ja, ich glaube auch dass die Grundlage um schädlichen Perfektionismus zu vermeiden die „Fehlerkultur“ ist, die wir meist selbst nicht so vermittelt bekommen haben.
Ich glaube aber auch dass wir unsere eigenen „Wunden“ damit heilen können dass wir sie unseren SchülerInnen glaubwürdig vermitteln.
ich habe eine Schülerin (jetzt ist sie 10), die bereits im Alter von 5 Jahren bei jedem Fehler in Tränen ausgebrochen ist. Natürlich hat da auch die Mutter eine wesentliche Rolle gespielt – das war ihr auch bewußt und wir haben offen darüber gesprochen (das tun wir immer noch).
Ich habe versucht dieser Schülerin zu erklären, dass wir – weil wir Menschen sind – nicht perfekt, sondern immer nur so gut wie irgend möglich sein können.
Sie hat mir nicht geglaubt, sondern hat mir erklärt, dass sie sehr wohl perfekt sein kann….
Schön langsam beginnt sie doch, an meiner Geschichte Gefallen zu finden 🙂
Gerade bei solchen Kindern finde ich es ganz wichtig dranzubleiben und ihnen über die Musik ein Übungsfeld zu bieten, damit sie die Erkenntnisse in andere Bereiche ihres Lebens einfließen lassen können.
Alles Liebe und danke für die Möglichkeit des Austausches
Angelika
Liebe Angelika,
vielen dank für Deinen so schönen Kommentar! Ja, es ist so wichtig, dass junge Menschen eine positive Grundhaltung zu „Fehlern“ beim Üben entwickeln, denn diese Grundhaltung begleitet bei jeglichem Lernen im Leben. Da ist das Spielen eines Musikinstruments wirklich ein wunderbares Übungsfeld dafür!
Herzliche Grüße,
Andrea