Talent haben oder Talent entwickeln?
Zum Thema Talent gibt es zwei ganz gegensätzliche Meinungen: Die einen sagen, Talent ist angeboren, man hat es, oder eben auch nicht. Die anderen sagen, Talent ist etwas, das sich entwickelt, wenn man sich lange und intensiv mit einer Sache beschäftigt.
Was jetzt wirklich zutrifft, bzw. zu welchem Prozentsatz das „Talent“ und zu welchem die tägliche intensive Beschäftigung, also die „harte Arbeit“, für einen Erfolg ausschlaggebend sind, darauf möchte ich hier gar nicht eingehen. Ich bezweifle, dass jemand das wirklich so genau feststellen kann. Mir geht es viel mehr darum, was diese beiden unterschiedlichen Meinungen im Menschen auslösen. Zu diesem Thema habe ich kürzlich ein sehr aufschlussreiches Plakat gesehen. Es stellt dar, wie sich die jeweilige Meinung über Talent auf das Verhalten auswirkt, und was das für Folgen für das Lernen und das Selbstverständnis eines Menschen hat. Das Plakat stammt von Jonathan Harnum, einem erfahrenen Musiker und Musiklehrer, und enthält Texte in englischer Sprache. Den gedanklichen Inhalt des Plakates möchte ich gerne hier mit Ihnen teilen:
Erste Meinung: Talent ist angeboren
- Ein Mensch mit der Überzeugung, Talent sei angeboren, meidet eher Herausforderungen auf Gebieten, auf denen er sich für nicht talentiert hält. Wenn er Fehler macht, denkt er sich gleich, „ich bin eben nicht talentiert.“ (Möglicherweise hat ihm auch als Kind irgend jemand einmal gesagt, es sei nicht talentiert, und er hat das nie hinterfragt und glaubt das heute noch.)
- Bei Herausforderungen gibt er schneller auf. Er denkt, „ich bin einfach nicht begabt auf diesem Gebiet, deshalb bringt es auch nichts, wenn ich mich weiter anstrenge.“
- Er empfindet Anstrengung als negativ, ist ungeduldig und denkt sich, „wenn ich talentiert wäre, müsste ich das doch sofort können!“
- Kritik hört er nicht gerne, er ignoriert sie lieber. Er denkt sich, „wenn meine Leistung nicht gut war, bin ich eben nicht talentiert.“ Damit ist das Thema für ihn erledigt. Er fühlt sich auch nicht angespornt, etwas noch einmal zu versuchen, um es besser zu machen.
- Wenn andere ein besseres Ergebnis erreichen als er, denkt er sich, „die haben halt Talent, ich eben nicht. Ich könnte das nie.“ Er leitet daraus keinen Handlungsbedarf für sich selber ab.
Zweite Meinung: Talent lässt sich entwickeln
- Ein Mensch mit der Überzeugung, dass Talent sich entwickeln lässt, verhält sich vollkommen anders. Er sucht immer wieder Herausforderungen, um sich weiter zu entwickeln. Er denkt sich, „wenn ich Fehler mache, dann lerne ich etwas daraus. Beim nächsten Mal kann ich es bestimmt schon besser.“
- Wenn etwas nicht gleich nach seinen Vorstellungen funktioniert, gibt er nicht so schnell auf. Geduldig bleibt er an der Sache dran und probiert so lange und auf so viele verschiedene Arten, bis er das gewünschte Ergebnis erreicht.
- Er weiß, dass seine persönliche Anstrengung der Schlüssel zum Erfolg ist. Er denkt sich, „je mehr ich an dieser Sache arbeite, desto besser werde ich.“
- Kritik nimmt er gerne an. Er denkt sich, „was kann ich aus der Betrachtungsweise meines Gegenübers lernen?“ Er ist immer offen für Verbesserungsvorschläge.
- Wenn andere ein besseres Ergebnis erreichen, fühlt er sich inspiriert und motiviert, weiter zu arbeiten, bis auch er so ein gutes Ergebnis erzielt. Er denkt sich, „der kann das aber gut, das will ich auch können!“
Ihre Meinung?
Was denken Sie, mit welcher Einstellung kommt man im Leben weiter? Keine Frage. Ungeachtet dessen, wie hoch der Anteil an Talent und der Anteil an investierter Arbeit und Anstrengung an einem Ergebnis wirklich ist – die zweite Einstellung (Talent lässt sich entwickeln) ist in jedem Fall förderlicher für das Lernen und die Selbstwahrnehmung eines Menschen als die erste.
Warum schreibe ich das hier? Weil es nicht nur uns selber und unsere Schüler betrifft, sondern auch deren Eltern. Eltern übertragen ihr „Mindset“ – ob gewollt oder nicht – an ihre Kinder. Jene Eltern, die überzeugt sind, dass sich Talent entwickeln lässt, unterstützen ihre Kinder auf ganz andere Art und Weise. Sie geben den jungen Menschen das Gefühl, sie können alles erreichen, wenn sie sich nur genug anstrengen. Und der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge! Sicher kennen Sie das folgende Sprichwort, das Henry Ford zugeschrieben wird:
„Ob du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall recht behalten.“
Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Instrumental-Lehrkräfte positiv auf das „Mindset“ der Eltern unserer Schüler einwirken! Wie denken sie darüber? Teilen Sie uns gerne Ihre Meinung dazu im Kommentar mit!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Für uns als Lehrer finde ich am wichtigsten, welchen Glaubenssatz wir selber haben. Meiner ist: Wenn ein Kind Geige lernen möchte, gesunde Arme und Hände hat, kann es das auch tun. Die Voraussetzungen was Bewegungs-Geschicklichkeit, Gehör usw. angeht sind natürlich sehr verschieden. All das behutsam im Tempo des Kindes zu entwickeln ist ja unser Job. Ich selbst unterrichte mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten und hatte immer mal wieder Phasen, in denen ich mit meinem Unterricht nicht ganz zufrieden war. Dann bin ich losgegangen und habe mir die „besten“ Pädagogen ausgesucht, um bei ihnen zu hospitieren und habe auch selbst mal die eine oder andere Unterrichtsstunde bei Profis für spezielle Themen genommen.
Ein weiterer Leitsatz von mir ist nämlich: Nicht das Kind hat Grenzen, sondern ich als Lehrerin muss mir was Neues einfallen lassen, wenn das, was ich möchte, nicht klappt.
Bei meinen Schülervorspielen achte ich immer darauf, dass jedes Kind etwas spielt, was es gut kann, sodass jeder Beitrag schön anzuhören ist. So fühlen sich alle Vortragenden gut und alle Eltern auch.
Liebe Frau Fliegner,
vielen Dank für Ihren so schönen Kommentar! Sie sprechen bzw. schreiben mir „aus der Seele“!
Herzlichst,
Andrea Holzer-Rhomberg
Danke für das Feedback!
Mit der 2. Einstellungen kommt man im Leben natürlich deutlich weiter.
Ich würde jetzt aber nicht zwischen „Talent haben“ und „Talent entwickeln“ unterscheiden, sondern z.B. Talent und Wille. Ein guter Freund von mir hat in der Schule im Musikunterricht große Probleme gehabt – er sang beispielsweise immer extrem schräg und traf nie wirklich die Töne. Wäre es da möglich Talent zu entwickeln? Er hat meiner Meinung nach auf dem Gebiet sehr wenig Talent. Auch mit Willenskraft stelle ich es mir für in sehr schwer vor, Fortschritte zu machen. Oder was denken Sie? Für mich ist das natürlich ein Talent-Extrembeispiel. Normal-talentierte Personen können durch Willenskraft, Ausdauer/Fleiß,… aber sicher Fähigkeiten entwickeln, die sehr talentierte, aber faule nie erreichen.
Lieber Christian,
vielen Dank für Ihren Kommentar! Ja, es gibt die unterschiedlichsten Ausprägungen von Talent. Manche Kinder sind motorisch sehr geschickt, andere wiederum haben ein gutes Gehör usw. Ich habe in meiner langjährigen Unterrichtspraxis die Erfahrung gemacht, dass all dies – zumindest bis zu einem gewissen Grad – trainierbar ist. Ein Kind, das „schräg“ singt, bzw. die Töne nicht trifft, hat entweder noch keine klare Vorstellung von den Tonhöhen entwickelt, oder die Stimme ist so „untrainiert“, dass das Kind die innere Vorstellung der Tonhöhe nicht umsetzen kann. Beides kann vorkommen, wenn man mit Kindern nur selten oder gar nie singt. Sowohl Gehörbildung als auch Stimmbildung können in so einem Fall Wunder wirken! Natürlich dauert es unter Umständen länger, zu einem Erfolgserlebnis zu kommen. Hier ist viel Geduld gefragt. Wenn das Kind aber genau das lernen möchte und auch übebereit ist, sehe ich kein Problem. Auch kleine Fortschritte sind Fortschritte. Und wenn der Ball erst einmal ins Rollen gekommen ist, … man weiß nie! Der Mensch ist ein so unglaublich lernfähiges Wesen, das seine Grenzen immer weiter hinausschieben kann …