Zwischen Über- und Unterforderung
„Muss ich dieses Stück nochmal üben?“ Sicher haben Sie diese Frage auch schon gehört.
Was aber tun, wenn die Rede von einem Musikstück ist, das vom Schüler noch nicht wirklich bewältigt wird? Vielleicht ist die Spieltechnik des Kindes doch noch zu wenig ausgereift, dadurch entsteht eine hohe Anspannung und infolge dieser Anspannung leidet dann auch die musikalische Gestaltung. Trotzdem will das Kind unbedingt zum nächsten Stück „fortschreiten“. Dieses Stück noch einmal zu üben erschiene ihm „langweilig“, und ein etwas „leichteres“ Stück zu spielen käme gar nahezu einem Scheitern gleich, denn das Kind aus der Parallelklasse darf ja auch ein „schwieriges“ Stück spielen.
Wie können wir als Instrumental-Pädagogen immer wieder die Balance halten zwischen Über- und Unterforderung unserer Schüler?
Wann wiederholen, wann weitergehen?
Einerseits möchten wir unseren Schülern eine solide Spieltechnik vermitteln. Dies braucht Zeit, Ausdauer und Achtsamkeit. Andrerseits möchten und sollen wir auch dem unbändigen Entdeckergeist der Kinder – der Lust auf Neues – Rechnung tragen. Wie kann man hier eine Balance finden? Hier möchte ich ein paar Wege aufzeigen, wie man sich möglichst „geschmeidig“ auf dem schmalen Grat zwischen Über- und Unterforderung bewegen kann, um die Kinder bestmöglich in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
1. Ein "früheres" Stück mit den "heutigen" Fähigkeiten spielen
Ein „altes“ Stück wieder herzunehmen klingt für viele Kinder erst einmal so, als ob sie „versagt“ hätten und nun einen Schritt zurück gehen müssen. Hier kommt es ganz auf die Art des Lehrers an, wie er diese Vorgehensweise vermittelt, z. B. „Du hast große Fortschritte gemacht, lass uns mal sehen, wie das Stück XY mit deinen heutigen Fähigkeiten klingt …“
Es kann nämlich ein unglaublich befriedigendes Gefühl für einen Schüler sein, ein Musikstück, das damals spieltechnisch und/oder interpretatorisch an seiner „oberen Grenze“ war, nach einer gewissen Zeit – zwischen den immer schwieriger werdenden Stücken – wieder zu spielen. Plötzlich gehen Dinge, mit denen man sich damals schwer getan hatte, ganz leicht von der Hand. Das Musikstück erscheint dem Schüler plötzlich „leicht“ spielbar. An so einem Musikstück kann man nun verschiedene Dinge ausprobieren: Man richtet den Fokus einmal ganz auf die eigenen Spielbewegungen, d.h. man schult ganz bewusst die Körperwahrnehmung. Oder: Man richtet die ganze Aufmerksamkeit auf die Artikulation/Phrasierung/usw. Man schult das Gehör, die Gestaltungsfähigkeit …
Hier kann man mit viel Phantasie ans Werk gehen und schließlich das „alte“ Stück mit „neuen Augen“ sehen, bzw. mit „neuen Ohren“ hören. Ein „Review“ in dieser Art schult ganz neue Facetten an der Spielweise eines Schülers und kann zudem sein Selbstbewusstsein ungemein stärken, weil ihm sein Fortschritt unmittelbar bewusst wird.
2. Ein neues Stück im gleichen Schwierigkeitsgrad
Wenn eine bestimmte Spieltechnik einfach noch mehr Wiederholung zur Verinnerlichung braucht, das Kind aber beim besagten Musikstück schon „geistig abschaltet“, ist es gut, wenn man noch andere Musikstücke im selben Schwierigkeitsgrad anbieten kann. Auch der Geist will gefordert sein. Die Kinder sollen sich ja „mit Leib und Seele“ am Lernen und am Musizieren erfreuen können. Hier meine ich nicht das immer wieder zitierte „Spaß machen“, sondern eine neue geistige Anregung bei gleichbleibendem spieltechnischen Schwierigkeitsgrad. Stumpfsinniges, geistloses Wiederholen eines Musikstückes führt gemeinhin nicht zu lebendigem Musizieren!
3. "Schwierig" und "Leicht" kombinieren
Meine bevorzugte Strategie ist es, an mehreren Stücken gleichzeitig zu arbeiten. Das kann eine Etüde mit hohem Schwierigkeitsgrad sein, daneben ein Musikstück, das recht zügig einstudiert werden kann, da es keine allzu großen Herausforderungen bietet, aber hübsch zu spielen ist. Das kann ein spieltechnisch und interpretatorisch anspruchsvolles Werk sein, durch das man sich passagenweise durcharbeitet, daneben werden etwas „leichtere“ kurze Charakterstücke gespielt, die dem Schüler aber eine breite Palette an Ausdrucksweisen ermöglichen. Durch diese Vorgehensweise hat man auch – trotz Erarbeitens von sehr anspruchsvoller Literatur – jederzeit ein Vorspielstück auf Lager, das beim Klassenabend gespielt werden kann.
4. Regelmäßig Auftrittsmöglichkeiten bieten
Wenn die Schüler einerseits mit spieltechnischen Herausforderungen konfrontiert werden, an denen intensiv gearbeitet werden muss, gleichzeitig aber auch mit vielfältiger Spiel-Literatur versorgt werden, die für sie gut bewältigbar ist, gibt es meist wenig Platz für Langeweile und Unterforderung und auch ebenso wenig ein Gefühl der Überforderung. Diese Balance immer wieder zu finden, ist eine große Aufgabe für uns Lehrer. Was uns sehr dabei unterstützen kann, sind die Auftrittsmöglichkeiten. Die jungen Musiker lernen, sowohl „leichtere“ Stücke richtig „schön“ und ausdrucksvoll zu spielen, als auch sehr herausfordernde Stücke vor Publikum zu meistern. Beides hat seinen Reiz und birgt große Entwicklungschancen auf der musikalischen Reise!
Wie gehen Sie mit diesem Thema um? Wie entscheiden Sie, ob ein Stück beibehalten oder zur Seite gelegt wird? Nach welchen Kriterien suchen Sie die Stücke für Ihre Schüler aus? Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen!
Herzlichst,
Ihre Andrea Holzer-Rhomberg
Danke wieder einmal für die vielen guten Anregungen!
Ich mache von allen Vortragsstücken und auch Etüden in den Unterrichtsstunden Aufnahmen. Da ist dann ganz klar, wann das Stück nicht mehr geübt werden muss, nämlich wenn die Aufnahme nach maximal 3 Versuchen (einigermaßen) fehlerfrei gelungen ist.
Am Ende des Schuljahres bekommen die Kinder dann eine CD mit ihren aufgenommenen Stücken. Das ist zwar viel Arbeit für mich, aber eine große Motivation für die Kinder.
Außerdem nehme ich immer auch ein „Wiederholungsstück“ ins Programm. Dieses Stück wird dann technisch auf den neuesten Stand gebracht.
Einmal im Jahr machen wir eine Vorspielstunde mit Wiederholungsstücken, die von KlavierschülerInnen begleitet werden. Das ist für alle Beteiligten sehr schön.
Ich lasse die Kinder auch oft die Wiederholungsstücke auf ihren früheren Jahres CD´s anhören, damit sie den Fortschritt hören können, den sie inzwischen gemacht haben.
Ganz liebe Grüße, Angelika Schwab-Orel
Liebe Frau Schwab-Orel,
das sind alles ganz wunderbare Ideen! Vielen Dank!
Die Idee der Vorspielstunde mit Wiederholungsstücken gefällt mir besonders gut, die werde ich definitiv ausprobieren!
Herzliche Grüße,
Andrea Holzer-Rhomberg